Liebe Leserin, lieber Leser,
in der englischsprachigen Fachzeitschrift „The Lancet“, von Spaßmachern auch als „Prawda der Schulmedizin“ bezeichnet, wurde kürzlich eine große Studie der Universität Seattle veröffentlicht. Eine Forschungsgruppe hat über 23 Jahre hinweg (1990–2013) weltweit Krankheitsstatistiken analysiert. Wie allgemein bekannt, stellen vor allem in den industrialisierten Ländern Herzinfarkt, Schlaganfall und COPD, also chronisch obstruktive Lungenerkrankungen, das Gros der Todesursachen dar, gefolgt von Krebs. Doch betrachtet man die nicht-tödlichen, alltäglichen Erkrankungen, erstaunt Folgendes: Auf allen Kontinenten stehen die gleichen Dinge im Vordergrund. Rückenschmerzen und Depressionen führen die Tabelle verbreiteter alltäglicher Krankheiten an. Und im Orient kommt noch Eisenmangel dazu. Demnach hätten 95 % der Weltbevölkerung ein gesundheitliches Leiden.
Trotzdem gibt es ein paar regionale Unterschiede. In den meisten Industrieländern, besonders Europa, spielen Folgen von Stürzen eine ungewöhnlich große Rolle (!), aber auch Erkrankungen wie chronische Bronchitis. Vielerorts werden Migräne, Angstzustände und Diabetes als weitverbreitete Krankheiten beobachtet, bei Diabetes mit extremen Zuwachsraten in Süd- und Mittelamerika sowie der arabischen Halbinsel. Von Aids und Malaria hat man oft gehört. Aber wussten Sie, dass über eine Milliarde Menschen weltweit jeweils an Altersschwerhörigkeit, Genitalwarzen und je fast eine Milliarde an Migräne und Wurmbefall leiden? Das hört sich alles nicht sehr gut an. Die ganze Welt demnach ein einziges Lazarett?
Ganz so schlimm würde ich es nicht sehen. Gerade bei Rückenschmerzen, Verspannungen etc. fällt es mir ein bisschen schwer, von vornherein von Krankheit im engeren Sinne zu sprechen. Diese Symptome haben eine hohe „Spontanheilungsrate“ von bis zu 90 Prozent, verschwinden oft von alleine, wenn man ihnen die Zeit gibt. Krankheit und Gesundheit sind sowieso nur Endpunkte einer Skala. Der Satz wird unter anderem dem Mediziner Aaron Antonovsky (1923–1994) zugeschrieben, von dem das Konzept der Salutogenese stammt. Es beschreibt, welche Faktoren den Menschen gesund erhalten. Selten ist ein Mensch nur krank oder hundertprozentig gesund. Das wahre Leben spielt sich dazwischen ab. Gesundheit kann durchaus auch dann bestehen, wenn Krankheiten vorhanden sind. Umgekehrt kann Krankheit selbst dann vorliegen, wenn die Gesundheitsbeeinträchtigungen objektiv als gering erscheinen. Es ist somit immer auch eine Einstellungsfrage.
Naturheilkundliche Denkansätze können helfen, Krankheiten zu vermeiden und mit Krankheit besser umzugehen – ein wesentlicher Faktor auch in psychischer Hinsicht. Vorbeugung ist wichtiger denn je. Während man bei uns die Klassiker – nicht rauchen, gesunde Ernährung und Bewegung – in den Vordergrund rückt, gelten in Krisenregionen andere Voraussetzungen. Dort wären erst einmal Hygiene und Zugang zu frischem Wasser wichtige Grundthemen.
Immer häufiger wird argumentiert, welche Chancen die Digitalisierung bringe, auch in der Medizin. Demnächst lesen wir unseren Gesundheitszustand vom Smartphone ab … Wenn ich mir allerdings ansehe, dass jetzt schon kaum noch normale Gespräche möglich sind, weil Menschen ständig unter sich in solche Geräte schauen, behaupte ich einmal, allein dadurch werden Rückenschmerzen und Depressionen zunehmen.
Mit besten Grüßen
Ihr Dr. med. Rainer Matejka