Liebe Leserin, lieber Leser,
glauben Sie auch, dass die Naturheilkunde äußerst beliebt ist und ihr die Zukunft gehört? Zu einigen Thesen, die man in diesem Zusammenhang immer wieder hört, möchte ich einmal Antithesen als Denkanstoß formulieren:
Das Gesundheitswesen missachtet die Wünsche der Menschen – denn 80 % wollen naturheilkundlich behandelt werden.
70 % entscheiden sich für die Schulmedizin, wenn sie vor die Wahl gestellt werden. Der Normalbürger versteht unter Naturheilkunde in erster Linie Dinge wie Homöopathie oder Akupunktur: sozusagen passiv „konsumierbare“ Verfahren, die man verordnet bekommt oder „bei denen etwas mit einem gemacht wird“. Auf den Kern der Naturheilkunde angesprochen – die Kneippschen fünf Säulen (Ernährung, Bewegung, Wasseranwendungen, Kräuter, Ordnungstherapie) –, sinkt das Interesse rapide.
Menschen wollen ganzheitlich behandelt werden und keine Apparatemedizin.
Ersteres mag stimmen, letzteres nicht. Im Gegenteil. Die Bevölkerung fordert mehrheitlich geradezu Apparatemedizin. Ein Arzt, der sich lange Zeit für das Gespräch nimmt, gilt bei einigen sogar als inkompetent, weil er offenbar keine modernen Geräte hat, um schnell zur Diagnose zu kommen. Dieses Ergebnis erbrachte eine Analyse von Patientenmeinungen.
Die Pharmaindustrie verhindert, dass Naturheilkunde sich weiter durchsetzt.
Das bezweifle ich. Zumindest ist die Bevölkerungsmehrheit der beste Verbündete der Pharmaindustrie: Die meisten Menschen bevorzugen im Zweifelsfall den bequemen Weg der oft symptomatischen Arzneibehandlung gegenüber einer Ursachenbehandlung, die einiges an Eigenleistung erfordert (Ernährung, Bewegung usw., siehe oben).
Vor allem jüngere Ärzte sind aufgeschlossen für Naturheilkunde.
Ich fürchte, das Gegenteil trifft zu: Nie war die Mehrheit der Jungmediziner so weit weg von Naturheilkunde wie heute. Wer schon im Studium mit modernster Technik in Diagnostik und Therapie und ihren zum Teil faszinierenden Möglichkeiten zu tun hat, lässt sich von Salattellern und Blutegeln nicht begeistern. Es sind eher ältere Kollegen, die sich der Naturheilkunde zuwenden – sei es aufgrund von Erfahrungen am eigenen Leib, in der Familie oder aus Enttäuschung über die herkömmliche Rezeptblockmedizin in der Praxis.
Das Gesundheitswesen wird so oder so immer teurer, weil die Menschen älter werden und der medizinische Fortschritt zunimmt.
Medizinischer Fortschritt sollte sich nicht durch immer mehr Hüft- und Knieoperationen definieren, sondern auch durch bessere aktive Vorbeugung und Erhalt der Gesundheit. D. h. die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen sind kein Naturgesetz. Eine Studie zeigte kürzlich: Wer nicht raucht, sich mediterran ernährt und sich pro Woche dreieinhalb Stunden intensiv bewegt, kann sein Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle um gut 80 % senken. Natürlich würde sich dies auch positiv auf Erkrankungen wie Arthrose, Rückenschmerzen und Diabetes auswirken.
Auch wenn ich die verbreitete Euphorie nicht teile, sehe ich aber durchaus Anlass zur Hoffnung: Die großen Volkskrankheiten unserer Zeit werden sich nur durch fundamentale Verhaltensänderungen in den Griff bekommen lassen. Und das ist praktische Anwendung der Naturheilkunde, auch wenn manche es nicht so nennen mögen. In diesem Sinne, mit besten Grüßen
Ihr Dr. med. Rainer Matejka