Liebe Leserin, lieber Leser,
Sonntag, 10. Juli 2016, 21. 48 Uhr. Halbzeit des EM-Finales Frankreich gegen Portugal. Bislang habe ich mehr Tränen – der portugiesische Spielführer Cristiano Ronaldo muss verletzt und weinend das Spielfeld verlassen – als Tore – es steht 0:0 – gesehen.
Jedenfalls entscheide ich mich, schnell in meinen E-Mail-Briefkasten zu schauen und entdecke unter haufenweise belangloser Post eine Nachricht, die meine Aufmerksamkeit sofort auf sich zieht. Sie stammt von einem medizinischen Fortbildungsportal, dessen Neuigkeiten ich regelmäßig beziehe und trägt den Betreff „Diagnose Adduktorenproblem ist häufig falsch“. Interessant, denke ich und klicke auf den Link in der E-Mail, der mich direkt zu einem Videoclip führt. 13 Minuten Länge. Passt perfekt in die Halbzeitpause.
Ein Münchner Professor namens Gollwitzer, seines Zeichens Experte für gelenkerhaltende Hüftchirurgie, referiert kompetent und überzeugend über ein oft verkanntes Syndrom: das „femoroacetabuläre Impingement“, aufgrund seiner Symptome oft als Adduktorenproblem missinterpretiert.
Dieser Zungenbrecher (ja, versuchen Sie ruhig „femoroacetabuläres Impingement“ fünf Mal hintereinander flüssig vor sich herzusagen) ist nicht nur Medizinerlatein im extravaganten Sinn, sondern auch recht unbekannt. Weder ich noch befragte nichtorthopädische Kollegen hatten den Begriff zuvor gehört, der offensichtlich eine beachtenswerte Differenzialdiagnose meint.
Für Leistenschmerzen, insbesondere bei jüngeren Menschen, die viel Sport treiben, werden meist die Adduktoren verantwortlich gemacht. Das sind die Muskeln, die das Bein heranziehen – im Unterschied zu der abspreizenden Muskulatur, den Abduktoren. Gerade im Beckenbereich setzen komplexe Muskel- und Sehnenstrukturen an, die immer wieder mal gereizt sein können.
Das „femoroacetabuläre Impingement“ liegt dann vor, wenn der Hüftgelenkskopf (caput femoris) teilweise entrundet ist, sodass die Knorpelfläche des Hüftgelenkkopfes nicht optimal in der Pfanne (acetabulum) liegt. Die Rede ist also von einer Art Unwucht, die bei entsprechend hohen Belastungen – vor allem im Leistungssport – zu ständigen Beschwerden, später auch zu ausgeprägten degenerativen Veränderungen mit schwerer Arthrose führen kann. Die Diagnose kann per Röntgen vermutet, dann mit einer speziellen MRT-Technik nachgewiesen werden. Therapeutisch eignet sich ein minimalinvasiver endoskopischer Eingriff. Bei diesem wird der Hüftgelenkskopf neu gerundet und der Knorpelstoffwechsel angeregt. Die Heilungschance gilt als sehr gut. Wichtig ist eben, möglichst frühzeitig an diese Diagnose zu denken.
Nicht sehr häufig wird man so kurz und prägnant mit Informationen versorgt, die völliges und spannendes Neuland darstellen. Dementsprechend habe ich das Video selbstredend mit der Bestnote „5 Sterne“ bewertet. Nur wenige Tage später las ich übrigens in der Zeitung, Arjen Robben leide wieder einmal unter Adduktorenproblemen. Hoffentlich haben auch die hervorragenden Ärzte von Bayern München das femuroacetabuläre Impingement als mögliche Beschwerdeursache im Hinterkopf.
In diesem Sinne grüßt Sie herzlich
Ihr Dr. med. Rainer Matejka