Liebe Leserin, lieber Leser,
Ende letzten Jahres besuche ich eine kardiologische Fortbildungsveranstaltung mit bedeutungsträchtigem Titel: „Herz und Seele“. Und ich frage mich im Vorfeld: Sollte sich die Schulmedizin der Kardiologie etwa tatsächlich ganzheitlich nähern? Der Name des Kongresses jedenfalls lässt hoffen, und die angekündigten Referenten – zwei internistische Herzspezialisten und ein Psychiater – klingen vielversprechend.
Den ersten Vortrag hält ein junger kardiologischer Oberarzt, den die Zuhörer kaum verstehen können. Den Rücken dem Publikum zugewandt, spricht er leise vor sich hin. Sein Gemurmel untermauert der Redner durch Vortragsfolien, die so sehr mit Text und Grafiken überladen sind, dass auch hier das Folgen schwerfällt. Inhaltlich stellt sich der Vortrag als rein schulmedizinisches „Update“ heraus: die neuesten Strategien in der Behandlung der Herzschwäche werden vorgestellt. Das Wort „Seele“ aber fällt kein einziges Mal.
Zwei Referate folgen noch, und ich bin sicher: Nun wird es ganzheitlich. Zumal der Psychiater an der Reihe ist. Doch auch er erwähnt die Seele, die die Veranstaltung betitelt, nicht. Der Tenor des Vortrags: 20 Prozent der herzkranken Menschen leiden an Depressionen. Werden diese fachgerecht behandelt, bessert sich die Prognose der kardiologischen Erkrankung nicht. Nach Ende des Referates fragt eine Teilnehmerin schließlich, was der „Experte“ von der Vitamin-D-Gabe bei Depressionen halte. Verdutzte und verwunderte Antwort: Er sei bislang davon ausgegangen, dass Vitaminmangel zu Zeiten der alten Seefahrer eine Rolle spielte. Ein „alter Hut“ in heutiger moderner Zeit. Und schließlich die Gegenfrage: Wie die Zuhörerin überhaupt darauf käme, dass zwischen einer Depression und einem Vitamin-D-Defizit ein Zusammenhang bestünde? Ob sie den Werbeaussagen eines Vitamin-D-Herstellers auf den „Leim gegangen“ sei? Angesichts so viel Ahnungslosigkeit kann ich dann doch nur noch den Kopf schütteln. Der interessierte, gebildete Laie weiß mehr, darf man behaupten. Denn dass bei depressiven Zuständen ein Blick auf den Vitamin-D-Spiegel lohnt, das ist in ganzheitlich behandelnden Kreisen der eigentliche „alte Hut“ …
Der dritte Referent, Chefarzt einer Klinik, spricht zum Thema „Moderne Bluthochdruckbehandlung“. Sein Vortrag überzeugt rhetorisch, und ab und an ist es sicher sinnvoll, auch schulmedizinisch „eingenordet“ zu werden. Interessant und paradox aber ist vor allem, was der Kardiologe zum Cholesterin zu sagen hat: Er plädiert für die Gabe von Statinen – auch in der „Primärprävention“, d. h. erhöhte Blutfette auch dann senken, wenn zuvor noch nie ein Herzereignis eingetreten ist. (Bislang sieht die Leitlinie nur die „Sekundärprävention“ mit Statinen vor – also nach Infarkt, „Stents“ oder Schlaganfall.) Er selbst, so der Redner, sei familiär mit Gefäßleiden behaftet. Deswegen habe er ebenfalls ein Statin ausprobiert. Weil dieses aber starke Nebenwirkungen erzeuge – man höre und staune – verzichte er auf die Einnahme. Dafür lasse er nun einmal jährlich die großen Arterien per Ultraschall kontrollieren … Dieser Referent war übrigens der einzige, der das Wort „Seele“ in den Mund nahm: „Früher haben wir immer geglaubt, das Herz sei der Sitz der Seele. Heute gehen wir davon aus, dass es die ‚Chemieansammlung‘ zwischen unseren Ohren ist.“ So viel zu „Herz und Seele“.
Die Veranstaltung war kurios, lehr- und anekdotenreich. Und sie zeigt: moderne Heilkunde ist von dem, was sich Ganzheitsmedizin nennt, noch Lichtjahre entfernt.
Ihr Dr. med. Rainer Matejka