Das Leben ist ein Gespräch
Bewusstsein

Das Leben ist ein Gespräch

Dr. phil. Christoph Quarch

Wer wünschte sich nicht ein erfülltes Leben – ein Leben, zu dem man „Ja“ sagen, das man gutheißen kann; ein Leben, das unser eigenes ist, weil wir uns
in ihm gefunden oder gar verwirklicht haben?

Viele Menschen sehnen sich danach, so zu leben, dass sie am Ende ihrer Tage sagen können: „Ja, das war mein Leben – das war Ich“? Wer wollte nicht gerne er selbst sein?

Es fragt sich nur, was das bedeutet. Im alten Heiligtum zu Delphi grüßte eine Inschrift alle Pilger, die um Rat und Unterweisung baten: „Gnothi sauton“ stand dort geschrieben. „Erkenne dich selbst!“ Ganz so, als wolle jener Gott, dem dieses Heiligtum gewidmet war, die Menschen dazu animieren, sich immer wieder neu der Aufgabe zu unterziehen, herauszufinden, wer sie sind – oder wer sie werden könnten, sofern es ihnen gelänge, ihr eigenes, unverwechselbares Wesen zu erkunden.

Wie aber soll das gehen? Wie werden wir zu denen, die wir sind oder werden könnten? Einer, der jenes Wort aus Delphi verinnerlicht hatte, war Sokrates (469 – 399 v. Chr.). Er nahm es für sich selber ernst und machte es zudem zu seiner Lebensaufgabe, andere darin zu unterstützen, ihr jeweiliges Wesen zu entdecken und zu sich selbst zu finden. Maieutik nannte er dieses Projekt – was so viel heißt wie Hebammenkunst. Denn eben darum ging es ihm: Die Menschen dabei zu begleiten, sich selber zu gebären und die zu werden, die sie wirklich sind.

Wie stellte jener große Philosoph das an? Ganz einfach: indem er mit den Menschen sprach. Er hatte keine spezielle Technik, wendete keine ausgefeilte Methode an. Er suchte einfach das Gespräch, den Dialog. Ihm ging es dabei nicht darum, am Ende Recht zu haben oder einen Standpunkt durchzufechten. Er wollte nur herausfinden, wer jener Mensch denn wirklich ist, der ihm gegenüber saß. Nicht um die eigene Neugier zu befriedigen, sondern um jenem Gesprächspartner einen Spiegel vorzuhalten, in dem dieser sich zuletzt selber erkennen kann – sofern er denn den Mut dafür aufbringt.

Das war nicht immer einfach. Im Gegenteil. Sokrates musste schmerzlich erfahren, dass Menschen nichts so wenig dulden, wie wenn man ihre Selbstbilder in Frage stellt. Und eben das tat er. Er stellte Glaubenssätze oder Dogmen radikal in Frage. Er klopfte lang und heftig an das meistens trügerische Bild, das seine Gesprächspartner von sich hatten. Man könnte auch sagen: Er fühlte ihrem Ego auf den Zahn. Mit dem Ergebnis, dass sie ihn hassten.

Das ändert nichts daran, dass sich in der Gesprächskunst unseres Sokrates eine subtile Wahrheit zeigt: Wer zu sich selber finden will, kommt nicht daran vorbei, die Selbstbilder, mit denen er sich identifiziert, immer neu in Frage zu stellen und womöglich zu zertrümmern. Denn jedes fixe Selbstbild lässt uns glauben, wir wüssten schon, wer wir sind – und es käme nur noch darauf an, uns selbst zu optimieren; so zu leben, dass unser Leben diesem selbstgemachten Bild entspricht.

Ein solches Denken ist in unserer Gegenwart äußerst beliebt. Wie viele Zeitgenossen haben ein klares Bild davon, wie sie gerne wären! Sie wissen genau, was sie brauchen, und verwenden alle Zeit und Energie darauf, ihre Konzepte zu verwirklichen. Auf diese Weise aber sind sie blind für all die Möglichkeiten, die tief in ihrem Inneren schlummern und die im Laufe eines Lebens zu entfalten, die Größe und die Schönheit eines Menschen ausmacht.

Die meisten Zeitgenossen starren immer nur auf ihre Selbstkonzepte – und versäumen überdies, ihre Lebendigkeitspotenziale zu kultivieren. So aber bleiben sie kleine Menschen: Egozentriker, die sich von nichts und niemandem etwas sagen lassen.

Sich etwas sagen lassen aber ist der Weg, den gehen muss, wer zu sich selber kommen will. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, brachte der Philosoph Martin Buber (1878 – 1965) dieses fundamentale Prinzip des Lebens auf den Punkt. Wir brauchen andere, wir brauchen das Gespräch mit ihnen. Denn nur das Fremde, Neue, Unbekannte entfesselt das, was in der Tiefe unserer Seele darauf wartet, endlich gelebt zu werden.

Das freilich setzt voraus, dass man bereit ist, sich für andere zu öffnen. Das ist oft schmerzhaft, aber mehr noch ist es heilsam. Denn starre Selbstbilder blockieren meist den Strom des Lebens. Sich dem zu stellen, was das Leben und die Menschen uns zu sagen haben, hält uns jedoch im Fluss und lässt uns eigentlich lebendig sein. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, um nochmals Martin Buber zu zitieren. In der Begegnung formt sich unser Selbst. Wir sind nicht die Produkte unseres Wollens oder Könnens, wir sind vielmehr Gesprächsergebnisse, die sich dann einspielen, wenn wir uns auf die große Konversation des Lebens einlassen.

Wer ein erfülltes Leben will, braucht dafür andere Menschen. Er braucht Erfüllungs-Gehilfen, die ihm als „Hebammen“ zur Seite stehen. Denn nicht Selbstoptimierung führt zur Erfüllung, sondern der Mut, sich dem auszusetzen, was andere uns zu sagen haben. Wer solches wagt, wird innerlich wachsen und reifen – ein Prozess, der nie endet. Denn der Mensch ist niemals fertig. Er ist das Wesen, dessen Sein ein Werden ist.

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