Gehören Sie auch zu den netten, den wirklich lieben, vielleicht sogar zu lieben Mitmenschen? Sind Sie zuvorkommend, stehen immer mit Rat und Tat zur Seite, lächeln freundlich, bringen kaum ein „Nein“ über die Lippen und können Dank und Lob schwer annehmen? Dann sollten Sie sich fragen: „Tut mir das gut?“
Es ist nichts dagegen einzuwenden, sein Leben unter das Motto „Liebe deinen Nächsten“ zu stellen, doch es besteht die Gefahr, dass man dabei eigene Grenzen überschreitet. Die Folge: Die Gesundheit beginnt zu bröckeln und irgendwann wird man krank. „Ja, sollen wir alle Egoisten sein?“, höre ich schon den Einwand so manchen geschätzten Lesers. „Aber sicher!“, möchte ich sagen. Allerdings nicht im Sinne des sich selbst über alle Maßen liebenden Vertreters der Gattung Mensch, dessen persönlicher Tellerrand vom gepflegten Scheitel bis hin zu den Zehen reicht, sondern im Sinne eines gesunden, sich selbst nicht verleugnenden Egoismus. Passender wäre hier das Wort Selbstfürsorge.
Die alles entscheidende Frage sollte in diesem Zusammenhang lauten: Tut mir gut, wie ich lebe, was ich den ganzen Tag mache? Lege ich mein eigenes Wohl in die Waagschale, wenn es abzuwägen gilt, was ich tue, worauf ich verzichte, was ich anstrebe? Oder stelle ich meine Interessen ganz hinten an? Hinter das Wohl von Kindern, Partner, Eltern, Vorgesetzten, Kollegen, Freunden?
In Gesprächen mit schwer erkrankten Menschen, die dem Tod im letzten Augenblick von der Schippe gesprungen sind, bekommt man auf die Frage nach ihrer Lehre aus diesem Ereignis immer eine ähnliche Antwort: „Ich werde ab sofort vor allem das tun, was mir guttut.“ Wer eine zweite Chance im Leben bekommt, erkennt, dass sein bisheriges Leben nicht optimal war und dass ihn vielleicht Stress, Traurigkeit oder unterdrückte Wut in die Krankheit getrieben haben.
Vor allem Krebspatienten, die nach Chemo und Operation eine neue Chance erhalten, stellen ihr Leben unter das Leitmotiv: „Besser leben.“ Besser auf sich aufpassen, seine Bedürfnisse nicht weiter unter den Teppich kehren, sondern sie achten und verteidigen. Dem sozialen Umfeld wird dieser Wandel nicht unbedingt gefallen, aber was ist wichtiger als Ihre Gesundheit?
Eine Betroffene äußerte sich dazu folgendermaßen: „Ich mache mir keinen Stress mehr, sondern mache immer mehr das, was mir guttut. Das Leben wird so viel bewusster, ich genieße die Dinge und setze sie um, anstatt von ihnen nur zu träumen. Wenn ich jetzt in den Urlaub fahren will, mache ich es und träume nicht nur davon. Früher hätte ich hin und her überlegt und wäre dann doch zu Hause geblieben, weil es mir zu viel gekostet hätte. Und dann hätte ich gejammert, dass ich mir das nicht leisten kann. Jammern gibt es nicht mehr. Jetzt jammern vielleicht manch andere, weil ich mehr auf mich achte und mich weniger um fremde Bedürfnisse kümmere. Ich gebe zwar noch immer viel, aber nicht mehr 150 Prozent, so wie früher.“
Eine Psychoonkologin berichtet: „Eine Patientin erzählte, dass sie vor der Erkrankung vieles getan hat, um andere zufriedenzustellen, um zu gefallen, um nicht allein zu sein. Nach der Erkrankung hat sie gesagt, was sie möchte und was nicht – auch auf die Gefahr hin, Konflikte auszulösen.
Auch das ist ein Resultat des Abwägens zwischen dem, was einem guttut und was nicht. Viele sagen sich: Ich bin jetzt stärker als zuvor, ich achte nun auf mich. Kommt man zum Schluss, dass es einem nicht guttut, immer nur ,Ja‘ zu allem zu sagen, dann lernt man Schritt für Schritt ,Nein‘ zu sagen. Wenn einem bestimmte Tätigkeiten oder Menschen nicht guttun, dann trennt man sich oder erlaubt sich mehr Distanz. Viele entwickeln mit der Zeit eine Stärke, gepaart mit dem Vorsatz, sich und den eigenen Bedürfnissen mehr Raum zu geben. Das kann im Extremfall sogar bedeuten, zu kündigen, wenn innerhalb des Arbeitsplatzes keine Veränderungsmöglichkeiten bestehen, oder sich vom Partner zu trennen, wenn diese Beziehung zu sehr belastet. Sehr oft verändert sich in dieser Zeit auch der Freundeskreis. Freundschaften erhalten eine andere Qualität. Auch der alltägliche Umgang mit der Zeit kann sich verändern: Zeit für sich selbst, für Tätigkeiten, die Freude machen, wird nun vermehrt in Anspruch genommen. Vor ihrer Erkrankung sind viele Betroffenen in erster Linie um Pflichterfüllung bemüht. In stressigen Zeiten verzichten sie auf Hobbys, Treffen mit Freunden usw., weil dafür keine Zeit mehr bleibt oder sie zu müde sind. Aber gerade dann sollte man darauf achten, sich Zeit für sich selbst zu erlauben, um auftanken zu können – sozusagen eine Verabredung mit der eigenen Gesundheit. So achten viele nach der Erkrankung darauf, wie sie ihre Zeit verbringen und mit wem, es wird also neu bewertet, Unpassendes ausgeräumt und Passendes neu ins Leben geholt.“
Stellen Sie also Ihr eigenes Wohl in den Mittelpunkt Ihrer Entscheidungen. Seien Sie liebevoller zu sich selbst, freundlicher, nachsichtiger, anerkennender. Behandeln Sie sich selbst so gut, wie Sie Ihren liebsten Mitmenschen behandeln.
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