Liebe Leserin, lieber Leser,
leider erleben wir in der Medizin nicht nur Fort- sondern auch Rückschritte: Jahrzehnte- oder jahrhundertealte, bewährte Verfahren gelangen nicht mehr zum Einsatz und werden schließlich unterschätzt oder gar ganz vergessen. Sie scheinen schlichtweg zu simpel oder unbequem. Völlig außen vor bleiben vor allem jene Maßnahmen, mit denen sich keine großen Umsätze erzielen lassen. Man denke nur an die seit jeher praktizierten, klassischen Hausmittel.
Meist handelt es sich bei den mittlerweile als unattraktiv empfundenen Methoden um solche, die Aktivität und Eigeninitiative vom Patienten verlangen. Methoden, wie sie uns Sebastian Kneipp und Hippokrates gelehrt haben.
Jüngst finde ich in einer überregionalen Tageszeitung einen längeren Beitrag, der mit der Headline „Statt einer Handvoll Pillen“ überschrieben ist. Der Artikel befasst sich ausführlich mit der großen Bedeutung von Sport und Bewegungstherapie im Kontext des Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms (ADHS). Psychologen und Mediziner seien begeistert, heißt es, von dieser „neuen“ Behandlungsform. Ich bin irritiert, sind die positiven Effekte von Sport und Bewegung doch schon lange bekannt. Und zwar nicht nur auf Stoffwechsel- und Immunsystem, sondern gerade auch auf die Psyche. Nur die Neurologie und Psychiatrie haben dies bis jetzt offenbar nicht so recht mitbekommen …
Die Ergebnisse verschiedener Studien zu ADHS an der Universität Regensburg zeigen nun: Kinder, die Sport treiben, können sich deutlich besser konzentrieren, weisen eine höhere Merkfähigkeit auf und haben mehr Erfolgserlebnisse. Bislang liegen allerdings nur Untersuchungen vor, die den Sport begleitend zur medikamentösen Therapie – vorzugsweise mit Ritalin und ähnlichen Substanzen – untersuchen. Studien, die allein den Wert sportlicher Betätigung erforschen und mit dem der medikamentösen Behandlung vergleichen, stehen noch aus. Man kann nur hoffen, dass diese zeitnah durchgeführt werden. Denn nach wie vor ist nicht genau bekannt, welche Veränderungen die Gabe von ADHS-Medikamenten in kindlichen Gehirnen verursacht, und welche Spuren sie langfristig hinterlassen. Würden mehr Eltern ihren betroffenen Kindern neben sportlichen Aktivitäten eine gesunde, ökologische Ernährung anbieten, wären die Erfolge in der Behandlung von ADHS noch viel größer. Davon bin ich ebenso überzeugt wie von der günstigen Wirkung des „Medienfastens“, des Verzichts auf Fernsehen und Videospiele. Ende Juni hörte ich den eindrucksvollen Vortrag des Leiters einer international renommierten Schule. Dort werden Schüler aus über 30 Ländern unterrichtet. Sie lernen neben dem Fachunterricht auch, dass die virtuelle Welt des Smartphones nicht das wirkliche Leben abbildet. Und so ist es ab einer bestimmten Jahrgangsstufe Pflicht, dass Schüler soziale Einrichtungen wie Seniorenheime oder Behindertenwerkstätten kennenlernen und dort mitarbeiten. Nicht nur im Rahmen eines kurzen Praktikums, sondern regelmäßig, jede Woche für eine bestimmte Stundenanzahl. Auch handwerkliche Fähigkeiten werden vermittelt. Was hindert eigentlich die öffentlichen Schulen daran, ein ähnliches Konzept zu verfolgen, das zusätzlich noch mehr Sport integriert? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies teurer sein soll und zu schlechteren Ergebnissen führt, als die ständigen bildungspolitischen Experimente, mit denen unsere Schüler seit Jahrzehnten drangsaliert wurden – um bei PISA dann doch nur im Mittelfeld zu landen. Geld spielt, wie so oft, gar nicht die Hauptrolle. Wichtiger sind Kreativität, Mut und die Bereitschaft, auch mal unkonventionelle Wege zu gehen, meint
Dr. med. Rainer Matejka