Wissen Sie, wie es sich anhört, wenn Schnee fällt? Wie Sommerwind im Gras klingt oder das Rauschen der Blätter im Herbstwald? Sehnen Sie sich auch nach richtiger Stille ohne menschliche Laute und Maschinengeräusche? Aber wo finden wir sie: Orte mit Abwesenheit von Lärm?
Es ist unser Recht per Geburt, ruhig und ungestört den Lauten der Natur zu lauschen und ihnen den Sinn zu entnehmen, den sie uns erschließen.
Gordon Hempton
Orte, an denen wir für längere Zeit keinen Lärm hören, sind kaum noch zu finden. Selbst im dünn besiedelten Nordosten Deutschlands existieren nur wenige Wälder, in denen man weder Verkehr noch Landwirtschaftsmaschinen hört. Dafür unterbrechen Flugzeuge alle paar Minuten die Stille.
Wir müssen wohl erst wieder lernen, so etwas Grundlegendes wie Stille wertzuschätzen. So wie sauberes Wasser und saubere Luft keine Luxusgüter sein dürfen, ist auch die Stille essenziell für uns Menschen. Sie nährt nicht den Körper, sorgt aber dafür, dass der Geist gesund bleibt.
Hilfsmittel wie Kopfhörer, Ohrstöpsel oder Ruhekammern in Büros sind keine Lösung, denn sie ermöglichen nicht, mit den natürlichen Räumen um uns herum in Kontakt zu treten. Vielmehr schirmen sie uns auch von natürlichen Geräuschen ohne Lärm ab. Der US-amerikanische Akustikökologe Gordon Hempton definiert absolute Stille als Präsenz von Raum ohne Lärm: „Stille ist nicht die Abwesenheit von etwas, sondern die Präsenz von allem. […] Es ist die Präsenz der Zeit, ungestört. Wir können es in der Brust spüren. Stille nährt […] unsere menschliche Natur und lässt uns wissen, wer wir sind. […] Stille kann gefunden werden und sie kann dich finden. Sie kann verloren gehen und auch wieder entdeckt werden. Aber wir können sie uns nicht einfach vorstellen, […]. Um das die Seele bereichernde Wunder der Stille zu erfahren, muss man sie hören.“ (Gordon Hempton in „One Square Inch of Silence“)
Stille ist der akustische Fingerabdruck eines Ortes abseits jeglicher menschlich/maschinell erzeugter Geräusche. Hempton zufolge ist der Olympic National Park im westlichen Teil des US-Bundesstaates Washington auf der Olympic-Halbinsel außer vielleicht Alaska der Ort in den USA mit dem geringsten Lärmlevel. Ein Blick auf die Landkarte zeigt aber, dass auch dort hin und wieder Flugzeuge zu hören sein müssen. Es gibt kaum noch ewige und absolute Stille in unserer Welt. Die Grenzwerte für Stille werden heute in sogenannten „lärmfreien Intervallen“ gemessen. Um in Hemptons Liste der letzten lärmfreien Orte der Erde aufgenommen zu werden, sind 15 Minuten ohne jeden Lärm einmal in der Zeit zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang erforderlich. In dem riesigen und teilweise unbewohnten Gebiet der USA konnte Hempton lediglich 12 solcher Orte finden. Im westlichen Europa existiert wahrscheinlich nicht einer.
Stille zu erleben, ist nicht nur um unserer Selbst Willen essenziell. Stille lehrt uns, auch einander richtig zuzuhören. Menschen, die in Umgebungen mit viel Lärm wohnen, helfen einander weniger, als Menschen in ruhigen Gegenden. Wir brauchen Stille wahrscheinlich, um die wichtigen Informationen vom anderen Rauschen zu unterscheiden. Aber Stille bringt auch ein Element der Sicherheit in unser Leben. In der Natur signalisiert Stille, dass alles okay ist und wir nicht bedroht sind. Und das gilt als Voraussetzung dafür, dass wir auch in Gemeinschaften gut miteinander umgehen.
Nun können nicht alle von uns an entlegene Orte reisen. Wir brauchen für den Alltagsgebrauch eine etwas laxere Definition von Stille, die wir selbst erzeugen können: Zum Beispiel Türen und Fenster schließen, technische Geräte ausschalten und unseren eigenen Alltagsgeräuschen lauschen. Zum Beispiel Atmen, Gehen über das Parkett, zischendes Teewasser oder leises Rascheln, wenn wir eine Seite im Buch umblättern. Das alles in der Hoffnung, dass wir für ein paar Minuten von Lärm wie Müllwagen oder DHL-Bote vor der Tür, Flaschen, die in den Glascontainer geworfen werden, oder einem Rasenmäher verschont bleiben. Solche Minuten geben uns im Alltag etwas menschliche Stille und damit Nahrung für eine gesunde Seele. Bis wieder die Möglichkeit besteht, allein in den Wald zu gehen oder unter die Oberfläche eines Sees zu tauchen.
Wir können uns auch darin üben, selbst weniger Lärm zu produzieren. Harken wir doch den Garten, anstatt Laubbläser zu nehmen, oder fahren wir mit dem Fahrrad, statt mit dem Auto. Stellen wir einfach mal Klingel, Radio und Fernseher ab. Unser Recht auf Stille erfordert Aufmerksamkeit und Mitwirkung genauso wie den gelegentlichen Rückzug.
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