„Alles kommt zur rechten Zeit, wenn die Menschen lernen würden zu warten“, formulierte der französische Schriftsteller Francois Rabelais im 15. Jahrhundert. Ein frommer Wunsch – bis heute, 600 Jahre später. Der Blick auf unsere schnelllebige Zeit zeigt: Wir haben die letzten Reste unserer Ausdauer verbraucht, oder – um mit Rabelais zu sprechen – das Warten gänzlich verlernt. Die Geduld ist eine vom Aussterben bedrohte Tugend. Unglücklicherweise. Denn in ihr steckt großes Potenzial. Ein Plädoyer für die Fähigkeit, einfach mal abwarten zu können.
„Wie oft müssen wir noch schlafen, Mama?“ Victoria (3 Jahre) und Leonard (5 Jahre) sehen mich aus großen Augen fragend an. Also zählen wir ausdauernd die Nächte, die es noch zu überstehen gilt, bis der Weihnachtsbaum das Wohnzimmer endlich in warmes Kerzenlicht taucht und Christkind und Weihnachtsmann sich die Ehre geben. „Die lassen sich aber auch ganz schön Zeit, die Zwei“, finden meine Kinder. Und vor allem die letzten Tage vor dem heiß ersehnten Fest scheinen sich wie Kaugummi zu ziehen und lassen sich tatsächlich nur mit Plätzchenbacken und Weihnachtsbastelei erträglich gestalten …
Das „Etwas-nicht-mehr-erwarten-Können“, diese besondere Form kindlicher Ungeduld hat etwas Berührendes. Erlebt man sie doch meist angesichts überbordender Begeisterung und unbeschwerter Vorfreude. Ein Zustand, der glücklicherweise den meisten von uns selbst aus Kindertagen bekannt und unvergessen ist.
Ganz anders aber verhält es sich mit der Ungeduld, die wir tagtäglich leben und erleben. Sie begleitet unsere schnelllebige Zeit und steht in enger Verwandtschaft mit Hetze und Eile. Wir möchten etwas erreichen, einen Plan in die Tat umsetzen, aber bitte schnell, sofort, umgehend, gleich, am besten jetzt! Keine Zeit für Aufschub und Warten. Der langgehegte Wunsch ist „out“. Ebenso wie das längst ersehnte Ziel. Als unzeitgemäße Erscheinungen stehen sie auf dem Abstellgleis – gemeinsam mit Vorfreude, Hoffnung und beharrlichem Streben.
Verkauf und Angebot werden der „Gesellschaft der Ungeduldigen“ mittlerweile spielend gerecht. Sie ermöglichen den Sofortdownload, „versorgen“ mit schnellem Essen, dem „Fast Food“ im Vorbeifahren und garantieren die Lieferung der bestellten Ware am „next“, besser noch am „same day“. Und bis es endlich soweit ist, überbrücken wir die Stunden, indem wir online unsere Lieferung verfolgen, zu Neudeutsch „tracken“. Denn wir haben zwar keine Zeit mehr und Geduld schon gar nicht, dafür aber die volle Kontrolle.
Doch haben wir die wirklich? Können wir immer und überall bestimmen, kontrollieren und notfalls manipulieren? Das machen wir uns vor. Und dann, in manchen Situationen des Lebens, platzt die Autosuggestion wie eine Seifenblase. Zum Beispiel, wenn uns eine Erkrankung ereilt. Dann scheint uns die Kontrolle zu entgleiten. Oder wir reflektieren und verstehen, dass wir diese nie wirklich hatten. Auch wenn das hochmoderne Armband, das unsere Schritte zählt, unsere Herzfrequenz misst und registriert, wie viele Kalorien wir zu uns nehmen, uns vortäuscht, wir hätten alles im Griff. Natürlich auch uns selbst. Und so reagieren wir, wenn unser Organismus mit Beschwerden versucht, das Tempo zu drosseln, wie wir es gelernt haben, wie wir es gewohnt sind: mit fieberhafter Ungeduld. Nicht nur das Drumherum, auch das Selbst soll funktionieren. Auf Gedeih und Verderb. Was für ein Glück, dass die Werbung uns zahlreiche Mittel offeriert, die uns schnell wieder „auf die Läufe“ bringen. Die verantwortungsbewusste Mutter kann sich nämlich ebenso wenig eine Auszeit nehmen wie der Top-Manager. Rasche Linderung, am besten „same“ oder zumindest „next day“, das darf man wohl erwarten – als Prime-Mitglied des Lebens. Aber war es nicht die Zeit, die alle Wunden heilt? Auch im wörtlichen Sinne ist der „Patient“ einer, der sich in Geduld üben muss: Der Begriff ist Lehnwort des lateinischen patiens, was nichts Geringeres als geduldig bedeutet. Wer doch einmal kurz Pause macht, wird sich bewusst: Der Sinn des Lebens ist nicht Turbo und nicht Tempo. Sondern auch Muße, Ruhe, An- und Innehalten und vor allem Geduld. Wie so oft gereicht uns die Natur hier zu einem paradehaften Beispiel. Nur sie gibt ihren eigenen Rhythmus vor, ein Ablauf, der sich bewährt hat und von dem sie sich nicht abbringen lässt. Aus gutem Grund.
„Alexis Sorbas“, vielen nur als legendärer Film bekannt, basiert auf dem gleichnamigen, bewegenden Roman des griechischen Schriftstellers Nikos Kazantzakis. Kazantzakis ist auch für seine poetischen Naturbetrachtungen bekannt. In Erinnerung bleibt seinen Lesern eine besondere Passage, mit der er verdeutlicht, wie schädlich und wie wenig naturgemäß die menschliche hysterische Ungeduld ist. Er lässt seine Hauptfigur erzählen: „Ich erinnere mich eines Morgens, an dem ich auf einem Baume eine Schmetterlingspuppe entdeckt hatte. Der Schmetterling hatte gerade die Hülle gesprengt und schickte sich an, auszuschlüpfen. Ich wartete lange, ungeduldig, denn ich hatte es eilig. Ich beugte mich darüber und begann ihn mit meinem Atem zu wärmen.
Ich hauchte ihn ungeduldig an, und das Wunder begann sich vor meinen Augen in einem rascheren Ablauf als natürlich zu entfalten. Die Hülle öffnete sich ganz, der Schmetterling kroch heraus. Aber nie werde ich mein Entsetzen vergessen: seine Flügel waren noch gekrümmt und zerknittert. Der kleine Körper zitterte und suchte sie zu spannen, aber es war unmöglich. Auch ich versuchte, ihm mit meinem Atem zu helfen, doch umsonst. Ein allmähliches Reifen war nötig, die Flügel hätten sich langsam in der Sonne entfalten müssen, jetzt war es zu spät. Mein Atem hatte den Schmetterling gezwungen, zu früh auszukriechen, ein Sieben-Monatskind. Er zappelte verzweifelt und starb nach einigen Sekunden auf meiner flachen Hand. Diese kleine Leiche, glaube ich, ist die schwerste Last, die mein Gewissen bedrückt. Heute begreife ich erst richtig, dass es eine Todsünde ist, die ewigen Gesetze zu vergewaltigen. Wir haben die Pflicht, dem ewigen Rhythmus der Natur mit Vertrauen zu folgen.
Ich setzte mich auf einen Stein, um mich in aller Ruhe mit diesem Neujahrsgedanken vertraut zu machen. Ach, sagte ich mir, käme doch mein Leben im neuen Jahr ohne diese hysterische Ungeduld aus! Könnte doch dieser kleine Schmetterling, den ich in meiner Eile und Ungeduld umbrachte, immer vor mir her flattern, um mir den richtigen Weg zu zeigen und um so einem Geschwister von ihm, einer menschlichen Seele, beizubringen, sich nicht zu beeilen und seine Flügel in langsamem Tempo zur Entfaltung zu bringen.“
„Stärke wächst im Garten der Geduld“, sagt ein Sprichwort. Und in der Tat sind Geduld und Ausharren nichts Passives, Untätiges und auch kein Zustand der Trödelei. Sie sind Raum für Kreativität, konzentrierte Kraft, geballte Energie und die Ruhe vor dem Sturm im besten Sinne. Mehr Geduld also scheint mir ein guter Weihnachtswunsch zu sein. Einer, den wir uns selbst erfüllen können. Nach und nach. Und bis dahin zählen wir die Tage – Leo, Victoria und ich.
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