Vor kurzem war die Welt noch in Ordnung. Wir waren sicher, in einer Demokratie zu leben, einer Gesellschaftsform, in der sich die Herrschenden auf den Willen des Volkes berufen. Mit Beginn der Corona-Krise folgt die Regierung nicht mehr dem Wollen ihrer Bürger und Bürgerinnen, sondern gehorcht den Imperativen eines unberechenbaren Virus.
Seit einigen Wochen leben wir in einer Virokratie, einer politischen Ordnung, von der wir bisher nicht wussten, dass es sie gibt und wie sie funktioniert. Wir wissen es bis heute nicht, ebenso wenig aber auch diejenigen, die wir gewählt haben, damit sie uns regieren.
Vieles ist anders geworden, und es wird auch in Zukunft vieles vom Gewohnten abweichen. Die dünne Schicht der Normalität, allem voran die der Zeitnormalität, zerbricht. Hatte es sich bisher stets ausgezahlt, keine Zeit zu haben, sind jetzt diejenigen im Vorteil, die schon vorher viel Zeit hatten. War Zeit für den Homo smartphonensis bisher vor allem eine Ansammlung von knappen Terminen, Fristen und Deadlines, so hat er jetzt oft Zeit im Überfluss und einen zwangsentleerten Terminkalender dazu.
Die Selbstvergewisserung: „Ich eile, also bin ich“ funktioniert nicht mehr und die zur Demonstration der eigenen Bedeutsamkeit oft und gerne eingesetzte Floskel: „Tut mir leid, keine Zeit!“ läuft nun auch ins Leere. So schnell war Entschleunigung noch nie. Das ist nicht mehr die „Immer-auf-dem-Sprung“-Welt, die wir noch vor ein paar Wochen für die richtige hielten. Dann doch lieber wieder Versäumnisängste, strapazierte Nerven und Zeitdruck ohne Ende, statt Toilettenpapierhorten, Dauerhändewaschen, Verabredungen absagen und Termine canceln?
Gewiss, in zumindest einer Hinsicht hat sich für manche der Zeitstress auch erhöht: Der Kampf um die Vereinbarkeit von Arbeits- und Privatleben, das Zusammentreffen unterschiedlichster Zeitkulturen findet nun im eigenen Wohnzimmer statt: Bürotätigkeit, Freizeit, Familienleben, alles am gleichen Ort zur gleichen Zeit. Zeitstrukturen, die kürzlich noch vom Arbeitsumfeld, der Kita oder der Schule vorgegeben wurden, müssen jetzt selbst austariert werden. Da heißt es, eine neue Zeitbalance zu finden und den Alltag zu enthetzen.
Als Teilhaber einer Gesellschaft, in der es stets zu viel zu tun und zu wenig zu lassen gab, werden wir, ganz gleich ob wir das wollen oder nicht, lernen müssen, was wir in unserem faustischen Größenwahn ignoriert, verdrängt und vergessen haben: Wir beherrschen die Natur nicht, wir gehören ihr an, sind Teil von ihr. In Zeiten der Virokratie geht es vor allem ums „Lassen.“ Dabei wird es nicht mit dem Verzicht aufs Händeschütteln getan sein. Eher schon mit einem Wechsel vom Gas- aufs Bremspedal im Leben und mit einer verringerten Globalisierungsgeschwindigkeit.
„Tempo rausnehmen!“ lauten die eindringlichen Appelle und Mahnungen der Politiker an ihre Landsleute. Keine schlechte Idee! Wer ihnen folgt, wird erfahren, was der Philosoph Ernst Bloch beschreibt: „Dass es so leicht ist, nichts mehr tun zu wollen. Dass es uns so schwer fällt, wirklich nichts zu tun“. Jetzt, da wir gezwungen sind, im Haus zu bleiben, abzuwarten und auszuhalten, ist die Zeit auf einmal kein knappes Gut mehr. Und sie ist nicht mehr – wie bisher – vor allem Geld. Im Gegenteil: Zeit ist, was sie vor dem gegenwärtigen Ausnahmezustand auch schon immer war, ein Lebensmittel. Genauer gesagt: „Time is honey.“
Die coronabedingte Zwangsbremsung unserer auf Höchstgeschwindigkeit getrimmten Nonstop-Gesellschaft eröffnet die Chance, eine langsamere, vielfältigere, überraschendere und zufriedener machende Zeitwelt zu entdecken. Während der dabei erzwungenen Begegnung mit uns selbst könnten wir, wenn wir es nur wollen, den beschaulichen Aspekten unseres Zeithandelns wieder größere Beachtung und mehr Raum geben. Wir könnten die Lustversprechen der Muße und des Verweilens austesten, das in der Tempogesellschaft zum abweichenden Verhalten erklärte „Trödeln und Trudeln“, wie es Thomas Mann genannt hat, vom Eckensteherdasein befreien. Ausprobieren sollten wir einmal, ob das Leben nicht auch dann ganz schön ist, wenn man nicht jeden Morgen im Eiltempo die Wohnung verlässt, um anschließend im Stau ins Schwitzen zu kommen, weil bereits der erste Termin des Tages zu platzen droht.
Heute, da uns die Erkenntnis zugemutet wird, dass Leben nicht später, sondern jetzt stattfindet, ist es an der Zeit, sich an die wirklich wichtigen Fragen des Lebens zu machen:
► Wie will ich eigentlich leben?
► Wann ist es genug mit all der Hetzerei?
► Was tut mir gut?
► Was macht diese Gesellschaft lebenswert und zukunftsfähig?
Schluss also mit der Ausrede: „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur so selten dazu“. Denn Zeit haben wir genug. Und das Schöne ist: Sie wird uns täglich neu geschenkt – auch in Zeiten von Corona!