Spiritualität der kleinen Dinge
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Bewusstsein

Spiritualität der kleinen Dinge

Dirk Grosser

Im Bereich der Spiritualität und Religionen gibt es viele große Ideen: Erleuchtung, Eins-Sein, Erlösung, Gotteserkenntnis … Bedeutungsschwere Vokabeln, die zumeist Vorstellungen beschreiben, die jenseits unserer wirklichen Erfahrung angesiedelt sind. Oft halten diese uns davon ab, uns den ganz alltäglichen Wundern zuzuwenden. Dabei sind es gerade Letztere, die in uns einen wahrhaft spirituellen Dreiklang aus Achtsamkeit, Staunen und Dankbarkeit hervorrufen können.

Obwohl das viel beschworene „Hier und Jetzt“ gerade in spirituellen Kreisen einen hohen Stellenwert einnimmt, führen ironischerweise eben jene spirituellen Traditionen häufig dazu, dass wir uns mit Dingen beschäftigen, die weit weg von dem existieren, was im gegenwärtigen Moment geschieht. Wir lauschen im Internet einem selbsternannten Guru, den wir nie persönlich kennengelernt haben, versuchen aber, uns davonzustehlen, wenn unser älterer Nachbar sich mit uns unterhalten möchte. Wir meditieren über eine Lotosblüte, kehren aber achtlos das Herbstlaub zusammen, ohne dessen Schönheit auch nur zu erahnen. Wir schauen in die Ferne und übersehen das, was direkt vor unseren Augen liegt – doch findet das wahre Leben nicht gerade hier statt, ereignet sich das wirkliche Wunder nicht genau in diesem Moment? In diesem vermeintlich unspektakulären Alltag, der schließlich unser Leben ausmacht und der alles ist?

Achtsam auf das Hier und Jetzt schauen

Achtsamkeit hilft uns, unsere Augen auf ganz neue Weise zu öffnen und uns dessen, was uns umgibt, wirklich bewusst zu werden. Wir schauen in die Tiefe und lassen das Gesehene auf uns wirken, staunen ob der Unermesslichkeit des Weltraums, während wir nachts in unserem Garten unter dem Sternenhimmel stehen, erfahren Momente stillen Glücks, während wir die Pausenbrote für unsere Kinder schmieren, oder entdecken die eigene Dankbarkeit für unser pures Dasein, wenn wir unseren Hund dabei beobachten, wie er hinter einem Ball herrennt und sich dabei vor Freude fast überschlägt.

Wir atmen ein und aus, nehmen den Augenblick mit allen Sinnen wahr und kehren zurück zu unseren ganz eigenen Erfahrungen dieses Wunders namens Leben, die uns mit dem Gefühl tiefer Dankbarkeit beschenken: Wir erblicken den Mond, der die Gezeiten bestimmt und damit den Lebensraum des Wattenmeers schafft, wir sehen die Wildblumenwiese, deren Schönheit jeden Sommer fliegendes, summendes Leben einlädt. Wir freuen uns über die liebevoll geschriebene Postkarte, die ein Freund uns „einfach so“ zugesandt hat und schätzen den Kioskbesitzer, der uns kurz nach Feierabend dennoch freundlich bedient und nur unseretwegen noch im Laden steht. Jeder Tag ist angefüllt mit Dingen, Vorkommnissen und Begegnungen, die alles andere als selbstverständlich sind. Je mehr wir uns auf diese Sichtweise einlassen, desto mehr stellen wir fest, dass es keine langweiligen oder öden Momente gibt, dass unser Leben keineswegs in Routine erstarrt ist, sondern dass ausnahmslos jeder Augenblick außergewöhnlich, spontan und voller Leben ist.

Aufwachen für die Wirklichkeit

Der Dreiklang aus Achtsamkeit, Staunen und Dankbarkeit lässt uns aufwachen und eine Welt entdecken, in der jedes Lebewesen, jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze, jeder Stein, jede Wolke und jeder Stern wertvoll sind und ihre ganz eigene Heiligkeit atmen. Es ist, als würden sich Schleier heben und den Blick freigeben auf eine reichere und buntere Wirklichkeit, die ein großes „Danke!“ in unserem Herzen aufscheinen lässt. Ein „Danke“, welches sich immer mehr ausweitet und unser ganzes Leben mit all seinen alltäglichen Momenten des Müllrausbringens und der Parkplatzsuche umfasst und zu einem einzigen Gebet werden lässt. Wir öffnen uns und sind Teil einer Welt, die uns trägt, fühlen uns zugehörig zum großen Ganzen. Wir wurzeln in einen größeren Zusammenhang ein, sind an unserem Ort angekommen, umgeben von den zahlreichen großen und kleinen Unterstützern.

Wenn wir uns in dieser Weise umsehen und unser Leben betrachten, werden wir feststellen, dass wir förmlich von Segen überschüttet werden. Alles, was ist, segnet uns mit unserem Leben und unserer Möglichkeit des Wachstums, der Entfaltung. Alles, was ist, segnet uns mit seiner Anwesenheit, ohne dafür etwas zu fordern. Achtsam im Augenblick, staunend über das, was sich dort offenbart, und dankbar für das, was uns geschenkt wird, können wir aufwachen zu diesem Segen der Welt. Und wenn wir fähig werden, diesen Segen wirklich zu spüren, wird er in uns wirken, uns verwandeln, sodass wir ihn ganz bewusst weitergeben können: durch unsere Worte, durch unser Schweigen, durch unser Füreinanderdasein, durch unser liebevolles Handeln in der Welt.

Eine meiner größten Freuden und ein sehr gutes Beispiel für diese Spiritualität der kleinen Dinge, von der ich spreche, ist das morgendliche Füttern der Vögel in unserem Garten. Wenn ich die Tür öffne, um mit dem Sack Vogelfutter zum Futterhäuschen zu gehen, sitzen schon etwa 15 bis 20 Spatzen auf dem Zaun, trippeln aufgeregt hin und her, schwatzen alle durcheinander, hüpfen auf und ab, drehen sich um sich selbst und zeigen mir ihre hellen Bäuchlein und ihre in vielen Nuancen von Braun gehaltenen Rücken und Flügel. Hier und dort wartet auch schon die eine oder andere Blaumeise im Gebüsch, und auch ein Fink mit seiner grau-braun-weiß-schwarzen Zeichnung ist dabei. Habe ich die Futterstelle gefüllt, schwirren sie alle umher, holen sich einen Sonnenblumenkern oder ein Hirsekorn, um danach wieder auf dem Zaun zu landen und den ersten Bissen ihres Frühstücks zu sich zu nehmen. Dann geht es immer hin und her … und nach ein oder zwei Stunden ist das Futterhäuschen leer, was zu einigen piepsenden Beschwerden führt.

Ich beobachte dieses Schauspiel gern, staune über diese kleinen fliegenden Gesellen und wundere mich über die Fähigkeit, sich so aus eigener Kraft in die Lüfte zu erheben. Ich frage mich, wie das wohl sein mag. Mir fällt ein, dass Vögel die Erben der Dinosaurier sind und sie schon seit so langer Zeit zwischen Himmel und Erde dahinschweben. Ich bewundere ihre natürliche Schönheit, ihre unterschiedlichen Stimmen, ihre Rufe, Lieder und Signaltöne, ihr so anderes Dasein. All das sind Türöffner in die Welt und auch in mich selbst. Hier kann ich staunen und lernen. Hier kann ich mich verzaubern lassen. Hier kann ich mich zu dem zurückführen lassen, was wirklich wesentlich ist.

Den Alltag mit anderen Augen sehen

Spiritualität lehrt uns, mit anderen Augen zu sehen, unsere Perspektive zu verändern und uns von dem, was uns begegnet, verwandeln zu lassen. Diese Verwandlung geschieht in unserem Alltag – durch das, was uns berührt; durch das, von dem wir uns berühren lassen. Durch unsere Kinder, die mit bunter Kreide ein riesiges Krokodil auf die Hauswand malen, durch die gestrandeten Menschen auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs, die nicht mehr wissen, wie sie dort gelandet sind, durch die Schlange an der Supermarktkasse, die uns Geduld und Achtsamkeit besser als jedes Seminar lehren kann, durch die ganz eigene Schönheit von Hochspannungsleitungen und Baustellenabsperrungen, durch die Musik, die etwas in uns anrührt, und durch unsere echten Freunde, die mit uns lachen, mit uns reden und mit uns schweigen können.

Manchmal finden wir diese verwandelnde Kraft auch in Tempeln, Kirchen, Moscheen oder buddhistischen Gompas, doch die meiste Zeit befinden wir uns an weitaus profaneren Orten und setzen einfach einen Fuß vor den anderen, machen weiter mit unserem Leben. Aber wenn wir die Augen offenhalten, dann verblasst der Unterschied zwischen profan und heilig und es gibt nur noch ein „Alles“, was uns ruft und empfindsam macht.

Das Wunder im Gewöhnlichen

Mit dieser offenen Empfindsamkeit entdecken wir eine Alltagsmystik, mit der unsere Spiritualität von einer abstrakten Idee zu einer lebendigen Wirklichkeit wird. In dieser bewusst erlebten Wirklichkeit wird uns klar, dass spirituelle Erfahrungen jederzeit und überall möglich sind – und manchmal gerade in Situationen, in denen wir nicht mit ihnen rechnen. Wir reisen mit offenen Augen und entdecken die Schönheit im Unvollkommenen, das Wunder im Chaos und die Stille im Zentrum des Lärms. Wir entdecken das schlagende Herz der Welt in jeder Alltagssituation und eine neue Ebene der Beziehung zu all den sonderbaren Wesen, die diese Welt bevölkern. Wir entdecken die Spiritualität der kleinen Dinge und den ihr innewohnenden Segen!

Damit begegnen wir sowohl der Schönheit auf diesem Weg als auch der Schönheit in uns selbst: In all den Augenblicken unseres ganz normalen Lebens, die uns auf eigentümliche Weise anrühren und uns wachsen lassen, ebenso wie in den Momenten, die uns herausfordern, in denen wir üblicherweise ausflippen, uns verschließen oder uns auf mehr oder weniger gelungene Weise betäuben. Wir lassen das, was geschieht, an uns heran und entdecken dabei uns selbst, nehmen uns mit all unseren geliebten und ungeliebten Aspekten sowie all den verwirrenden und großartigen Facetten an, wir betrachten uns selbst achtsam, staunen über uns und sind dankbar für unser bloßes Hiersein … und erblicken das Wunder im Gewöhnlichen, das uns immer und überall umgibt und durchdringt.