Menschen übten Achtsamkeit bereits vor Jahrtausenden, als an eine Unterstützung durch eine extra hierfür erfundene App noch nicht zu denken war, und sie haben sich dabei bewährter Mittel bedient. Wenn man Menschen auf der Straße fragt, wer immer im Jetzt ist, werden sie vielleicht mutmaßen, ein tibetischer Lama, eine bekannte Yogalehrerin oder irgendein Meister, der lange geübt hat? Doch die Antwort ist eine andere …
Sie lautet: der Körper. Der Körper ist immer im Jetzt, in der Gegenwart, deshalb kann man perfekt beim Körper ansetzen. Der Körper ist immer da, Sie müssen kein teures Seminar bei ihm buchen. Er steht Ihnen zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung. Eine einfache Technik, derer Sie sich bedienen können, nennt sich „Bodyscan“. Übersetzt handelt es sich dabei um eine Momentaufnahme des eigenen Körpers. Dieser Ansatz geht zurück auf den burmesischen Laienmeister U Ba Khin (1899–1971). Es liegen ihm Aussprüche Buddhas zugrunde, die sich auf eine körperorientierte Bewusstheit beziehen: „In den ganzen Körper rundherum hineinspürend, werde ich einatmen. In den ganzen Körper rundherum hineinspürend, werde ich ausatmen.“
Der Bodyscan ist sozusagen eine kinderleichte Übung. Unter dem Begriff „Körperreise“ wird er tatsächlich auch mit Kindern schon ab fünf Jahren durchgeführt. Meist beginnt man die innere Reise bei den Füßen und endet am Schluss beim Kopf. Viele Menschen sind tatsächlich so entfremdet von ihrem Körper, dass sie mit so einer Übung erst nach und nach vertraut werden müssen, bis sie vielleicht ihren linken kleinen Zeh wieder spüren können.
Eine Freundin berichtete von der ungewöhnlichen Erfahrung eines heftigen Kribbelns und Juckens, sobald die Achtsamkeitsübung begann und sie sich entspannte – für sie völlig unerklärlich. Das seltsame Kribbeln ist dabei vielleicht ein erster Zugang zum Körper, ein erstes Signal dafür, sich überhaupt zu spüren. Viele Menschen sind gewohnt, ihren Körper erfolgreich zu ignorieren. Er wird nur wahrgenommen, wenn er einen Schmerz produziert, etwa im Kopf oder Nacken. Dann wird eine Tablette eingeworfen und der Körper gibt wieder Ruhe, man kann sich wieder dem zuwenden, was im Außen zu tun ist.
Der Bodyscan rückt den Körper in die Aufmerksamkeit; wie oben beschrieben, richtet man die Konzentration darauf, beobachtet einfach, und zwar ohne Bewertung: Wie fühlt sich meine Hand an? Wie geht mein Atem, halte ich den Atem an? Was man normalerweise als Schwierigkeit sehen würde, beispielsweise Schmerzen, gehört dazu. Es geht darum, überhaupt erst mal wahrzunehmen, wie man sich fühlt. Das ist der erste Schritt, zunächst nur zu bemerken, dass sich verschiedene Körperbereiche unterschiedlich anfühlen.
Das ist auch schon interessant: Aha, wenn ich mich entspanne, dann fängt es plötzlich an, überall zu jucken! Man kann es auch so sehen: Was normalerweise brach liegt im Körper, wird jetzt in seiner Lebendigkeit wahrgenommen. Vielleicht spalte ich sonst im Alltag viele Körpergefühle ab; da muss ich funktionieren. Schon als Kind muss man in der Schule stillsitzen, obwohl man eigentlich Lust hat, sich zu bewegen. Genauso geht es vielen Erwachsenen bei der Arbeit. Man unterdrückt den Bewegungsdrang. Schon als Kind musste man (Körper-)Gefühle herunterschlucken; das kann dann irgendwann zu einem Automatismus werden, man schaltet das alles ab. Irgendwann merkt man das gar nicht mehr. Es ist naiv zu glauben, dass man diese Gefühle zu Hause nach Feierabend einfach wieder anschalten könnte. Deshalb helfen Achtsamkeitsübungen. Wenn man Atem, Beine und Rücken wieder wahrnimmt, stellt man vielleicht erst einmal fest, dass der Atem stockt, dass die Beine ganz verkrampft sind oder der gesamte Rücken verspannt ist. Das ist der Sinn der Achtsamkeitsübung: Wenn man feststellt, was im Augenblick gerade ist – was man gerade fühlt oder eben auch nicht fühlt –, besteht die Chance zu einer Erkenntnis, die tiefer liegt. Wie das Zitat von Thich Nhat Hanh andeutet: „Das, was ich erkenne, kann sich auflösen.“
Autorin
Mia Flora ist Psychologin, (Paar-)Therapeutin und leitet Seminare in Deutschland und im Ausland. Eineinhalb Jahre reiste sie mit dem Fahrrad durch Asien. Eingeladen vom Bruder des Dalai Lama, verbrachte sie ein halbes Jahr im nordindischen Dharamsala.
Sie ist Mitbegründerin des ersten Weltlachtages in Berlin.