„Erkenne Dich selbst!“ stand über dem Apollontempel in Delphi. Eine Aufforderung, die unsere Lebensaufgabe prägnant auf den Punkt bringt. Unser Selbstbild bestimmt unser Welt- und Menschenbild. Es legt fest, wie wir unser Umfeld wahrnehmen, welchen Sinn und Zweck wir allem geben – und somit auch, wo wir unser Glück suchen. Ob wir Frieden und Liebe finden oder Angst, Schuld und Hass.
Die Welt spiegelt uns unsere Selbstwahrnehmung. Denn Wahrnehmung ist Projektion: Wir sehen und interpretieren alles durch unsere individuellen gedanklichen Überzeugungen unseres unbewussten konditionierten Verstandes. So sind wir Gefangene unseres permanent urteilenden Geistes, der uns vom Glück und anderen Menschen trennt und unseren Frieden verhindert. „Wer bin ich eigentlich?“ Vielleicht haben Sie sich diese Frage mitten im Trubel des Alltags auch schon einmal flüchtig gestellt. „Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht: Was mache ich hier? Was soll ich? Wer bin ich für meinen Chef, meine Eltern oder für meinen Partner? Für wen hält er mich?“ Diese und ähnliche Fragen zeugen bereits von innerer Verunsicherung und Verwirrung sowie von diffuser Unzufriedenheit. Aber wir sollten uns diese Frage ruhig bewusst stellen. Denn die Antworten darauf sind existenziell. Sie setzen sich mit unserer Identität aus- und bringen mögliche Selbstkonzepte durcheinander.
Die Frage „Wer bin ich?“ kann unsere Welt verändern. Oft identifizieren wir uns mit unseren Rollen, die wir beruflich, privat oder familiär einnehmen. Rollen, die wir bereits in unserer Herkunftsfamilie eingenommen haben. Unreflektiert nehmen wir jene mit ins Erwachsenenleben und hinterfragen sie erst angesichts einer Krise oder einer Erkrankung: Eben dann, wenn es so wie bisher nicht mehr weitergeht, und wir einen zu hohen Preis zahlen für die Art, wie wir unser Leben gestalten, oder besser gesagt, von den Erwartungen anderer Menschen leben lassen.
Soweit sollten wir es gar nicht erst kommen lassen. Der amerikanische Priester und Lehrer Anthony de Mello erzählt dazu folgende Geschichte: „Es war einmal eine Frau, die lange im Koma lag. Doch dann erschien es ihr, als sei sie schon tot, als wäre sie im Himmel und stände nun vor einem Richterstuhl.
„Wer bist du?” fragte eine Stimme. „Ich bin die Frau des Bürgermeisters” antwortete die Frau. „Ich habe nicht gefragt, wessen Ehefrau du bist, sondern, wer du bist.” „Ich bin die Mutter von vier Kindern.” „Ich habe nicht gefragt, wessen Mutter du bist, sondern wer du bist.” „Ich bin eine Lehrerin.” „Ich habe auch nicht nach deinem Beruf gefragt, sondern wer du bist.” „Ich bin Christin.” „Ich habe nicht nach deiner Religion gefragt, sondern wer du bist.” Und so ging es immer weiter. Alles, was die Frau erwiderte, schien keine befriedigende Antwort auf die Frage „Wer bist du?” zu sein. Irgendwann erwachte die Frau aus ihrem Koma und wurde wieder gesund. Sie beschloss nun herauszufinden, wer sie war. Und darin lag der ganze Unterschied.“
Wir könnten bei der Auseinandersetzung mit der Frage: „Wer bin ich?“ darauf stoßen, dass wir uns selbst gar nicht richtig kennen. Dass wir uns nicht spüren, sondern nur im Kopf leben. Wir könnten entdecken, wie eingezwängt und eingeengt wir leben, weil niemand Geringeres unsere Freiräume beschnitten hat als wir selbst – aus Angst vor Konflikten, davor, andere zu enttäuschen oder allein zu sein.
Dann könnten wir entdecken, dass wir viel mehr sind als das, was wir leben, dass die wechselnden gedanklichen Überzeugungen und Gefühle, das sogenannte Ego, das wir uns in Abgrenzung zu anderen konstruiert haben, nicht das sein kann, was wir selbst wesentlich eigentlich sind. Wir kommen schließlich dahin, dass wir der beobachtende Geist, ja das Bewusstsein selbst sind. Dass es dieses Ich gar nicht gibt, das ständig durch seine gedanklichen Beurteilungen künstliche Trennungen verursacht. Schließlich führt uns diese Frage vielleicht, wenn wir mutig genug sind und darüber meditieren, in einen stillen Raum unseres Geistes jenseits der automatischen Gedanken unseres konditionierten Verstandes. Wir verlassen den vertrauten Angstkäfig und spüren zu unserer Überraschung plötzlich eine tiefe Ruhe, inneren Frieden und Freiheit und eine große unbedingte Freude.
Dann merken wir, wie dieser geistige Zustand von innerem Frieden und Liebe uns trägt. Und wir sind, wenn wir uns im Alltag zumindest zeitweilig im Hintergrund dieses Erleben von Stille bewahren können, nie mehr ganz dieselben. Es ist der Beginn unseres Weges zur Zu-FRIEDEN-heit.
Autor
Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Coach, Lehr- und Paartherapeut, Supervisor, Vortragsredner und Autor. Unter www.anima-mea.org erscheint seine psychosomatische Hörbuchreihe. In der Rubrik „Seele in der Krise, Körper in Not“ beantwortet er Fragen von Naturarzt-Leserinnen und -Lesern.