Menschen erfahren die Welt durch sinnliches Wahrnehmen. Was stellt sich bei dir ein, wenn du an eine samtige Blattunterseite denkst? Bei mir taucht augenblicklich die sinnliche Assoziation mit einem jungen zarten Buchenblatt auf. Unsere Sinne sind unser Tor zur Welt und helfen uns, uns miteinander zu verbinden und zu anderen Lebewesen in Beziehung zu setzen.
Wir erleben uns und das Gegenüber, indem wir sehen, riechen und hören. Eine Verbindung entsteht, die sowohl negative als auch positive Gefühle erzeugen kann. Der Anblick einer Wespe erinnert mich zum Beispiel an das Brennen eines Wespenstichs vor fünfzig Jahren, während der Duft von harzigen Tannennadeln das Hochgefühl fröhlichen Badens im grünen Wasser des Fichtennadelschaumbads in mir aufkommen lässt.
Der Grund für den engen Zusammenhang zwischen Sinneswahrnehmungen und Gefühlen ist, dass unsere Sinne mit Gehirnbereichen verbunden sind, in denen vor allem Emotionen und Gefühle verarbeitet werden. Die Begriffe „Emotion“ und „Gefühl“ werden oft synonym be-nutzt, unterscheiden sich aber. Emotionen sind angeboren und kulturübergreifend ähnlich, sei es Ärger, Angst, Trauer, Freude, Ekel, Überraschung, Verachtung, Scham, Schuld, Verlegenheit oder Scheu. Das limbische System, das phylogenetisch zu den ältesten Teilen des Gehirns gehört, hat eine wichtige Aufgabe bei der emotionalen Bewertung. Hier werden unter anderem Emotionen erkannt, verarbeitet und reguliert, es spielt aber auch für unseren Antrieb, unser Lernen und unsere Motivation sowie die Verknüpfung von Emotionen mit Erinnerungen und die Gedächtnisbildung eine entscheidende Rolle.
Bei Gefühlen handelt es sich dagegen um sekundäre oder soziale Emotionen, die nicht angeboren sind, sondern im Laufe des Lebens gelernt werden, etwa Mitgefühl und Dankbarkeit, aber auch Neid und Gier. Für ihre Verarbeitung ist der präfrontale Cortex zuständig.
Aus der Summe vieler Einzelerfahrungen erschaffen wir unseren ganz persönlichen sinnlichen Blick auf die Welt. Ohne unsere Sinne könnten wir uns nicht zurechtfinden, weil uns Orientierung und Selbstkonzept fehlen würden. Sinnlichkeit ermöglicht also Verbindung. Mit all unseren Antennen nehmen wir einen Luftzug in unserem Gesicht wahr, einen Sonnenstrahl, der sich seinen Weg durch die Blätter bahnt, den Gesang der Vögel oder den Geruch des modrigen Stammes. Unsere Sinne schaffen magische Momente und spirituelle Erfahrungen, vom Ergriffensein über Demut bis hin zu Dankbarkeit.
Vielleicht läuft dir jetzt ein Schauer über den Rücken, dein Herz wird warm, oder es fallen Tränen der Rührung. Achtsamkeit schärft die Sinne und hält unsere Gedanken im Zaum. Willkommen im Hier und Jetzt. Achtsamkeit öffnet einen stillen, weiten Raum, in dem Verbundenheit, Frieden, Gelassenheit und Liebe herrschen. Achtsamkeit ist eine wichtige Voraussetzung für mein Waldcoaching. Wem es gelingt, offen und absichtslos in den Wald zu gehen, der wird in kleinsten Dingen Bedeutung entdecken. Wer dagegen durch die Natur rennt und schnelle Lösungen erwartet, wird nicht viel spüren. Achtsamkeit ist eine Kunst, die aufmerksames Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen erfordert. Im Sinne von anstrengungsloser Aufmerksamkeit hilft Achtsamkeit, schöne Momente zu entdecken, zu genießen und zu speichern. Gedanken und Erinnerungen treten in den Hintergrund.
Ein Begriff, der in der Achtsamkeitspraxis oft mitschwingt, ist die Absichtslosigkeit. Der verstorbene Zen-Meister und Mönch Thich Nhat Hanh (1926–2022) sagt dazu: „Absichtslosigkeit – manchmal auch Ziellosigkeit genannt – bedeutet nicht, dass wir nichts mehr tun, sondern dass wir kein Ziel mehr vor uns aufstellen, dem wir hinterherrennen und nachjagen. Wenn wir die Objekte unseres Begehrens und Wünschens wegnehmen, entdecken wir, dass Glück und Freiheit uns genau hier im gegenwärtigen Moment zur Verfügung stehen.“
Weiterführende Literatur
Suse Schumacher: Die Psychologie des Waldes. Selbsterkenntnis, Neuausrichtung und innerer Frieden durch Waldcoaching, München: Kailash 2024
Autorin
Suse Schumacher ist Psychologin, Podcasterin und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Als Naturtherapeutin arbeitet sie mit ihren KlientInnen am liebsten im Wald. Als systemische Coachin in Positiver Psychologie hat sie sich auf das Bewältigen von Krisen spezialisiert.