Der Platz, den mir das Leben zugedacht
Foto: Ruslan Batiuk / Adobe Stock
Bewusstsein

Der Platz, den mir das Leben zugedacht

Verena Grein

„Selbstsucht ist der Fluch des menschlichen Geschlechts“, formulierte der britische Pazifist William Ewart Gladstone im 19. Jahrhundert und bringt damit die Beständigkeit dieses Phänomens zum Ausdruck. Heute, rund zweihundert Jahre später, würde er sich bestätigt sehen, denn wir leben in einer Gesellschaft, die der Egozentrik Vorschub leistet.

Viele von uns führen ein Leben voller Privilegien, das uns schier endlose Wahlmöglichkeiten lässt. Angefangen bei den banalen Fragen des Alltags – Was esse ich heute? Was ziehe ich an? – bis hin zu den großen Themen unserer Existenz: Was ist meine Bestimmung? Welchen Weg will ich gehen? Wer möchte ich sein?

Manchmal mögen wir etwas verloren wirken im bunten, überaus gut sortierten Supermarkt der Optionen – angesichts der Reizüberflutung und der überfordernden Vielfalt. Doch große Plakate mit neongreller Schrift ermuntern uns, beherzt in die Regale zu greifen und das zu wählen, was wirklich zu uns passt: den richtigen Partner, die besten Freunde, den idealen Beruf, die perfekte Ausbildung – Dating-Portalen, Social Media und Jobbörsen sei Dank. Mit scheinbarer Zufriedenheit lauschen wir den Melodien unseres eigenen Wunschkonzerts. Und wenn irgendetwas nicht stimmig wirkt, dann passen wir es eben geringfügig an. Oder wir werfen alles über den Haufen und beginnen wieder bei null. Im Konsumieren sind wir als geübte Prime-Mitglieder, overnight, sameday einsame Spitze …mit der Betonung auf einsam. Besitzen, Benutzen, Wegwerfen beherrschen wir aus dem Effeff, denn das haben wir jahrelang trainiert.

Schließlich geht es doch um viel, genauer gesagt um alles: um unsere Erfüllung, unser Glück, um jede und jeden Einzelne/n von uns.

Warum aber sind wir mit dem x-ten Liebhaber, fünfhundert digitalen Freunden und tausend Followern und unserem zehnten Diplom eigentlich immer noch so unzufrieden? Warum fühlen wir uns so leer? Haben wir nicht gut genug gewählt, müssen wir nochmal überlegen, erneut bis auf „LOS“ vorrücken? Oder hat am Ende – Gott bewahre – der Algorithmus versagt, der uns so professionell berechnet hatte, wie wir zur Glückseligkeit gelangen?

Unbehagen und Unglück, Leere und Leiden, Depression und Desillusionierung beginnen dort, wo wir nur noch um uns selbst kreisen. Wo aus gesunder Selbstliebe Selbstsucht und aus Selbstfürsorge Egozentrik wird. Dort, wo ich der Nabel der Welt bin, und der andere nichts mehr gilt. Und warum? Weil blinder Egoismus zu einem widernatürlichen Dasein verleitet.

Als Bindungs- und Beziehungswesen braucht das Ich das Du, den anderen – und zwar so nötig wie die Luft zum Atmen. Im Stamm und im Clan geboren, sehnen wir uns evolutionär begründet seit jeher nach Gemeinschaft. Und damit nicht genug: Es reicht uns nicht, in Gesellschaft vor uns hinzudümpeln. Vielmehr möchten wir für andere da sein, uns sorgen und kümmern und aktiv Verantwortung übernehmen.

Individualität ist ein großes Geschenk, wenn wir mit ihr umzugehen verstehen, wenn wir sie maßvoll leben und bescheiden genießen – ohne unsere Mitmenschen, das Gemeinwohl aus den Augen zu verlieren. Wenn wir dem Verlangen nach dem Scheinwerferlicht unser Mitgefühl unterordnen und den Sinn für den anderen opfern, wenn wir die Trennung kultivieren statt die Verbundenheit zu fördern, können wir nur verlieren. Denn wir sind, ganz gleich, wie wir es drehen und wenden mögen, Gemeinschaft, Beziehung, Miteinander: Wir sind Eins. Ob wir unsere Liebe in der Familie verteilen, uns um unsere Freunde und Nächsten sorgen, im Ehrenamt kümmern oder uns unbekannten Menschen Zuversicht und Hoffnung schenken und ein Lächeln ins Gesicht zaubern dürfen: Zusammen macht glücklich.

Wenn wir nicht ständig abwägen und „zerdenken“, was uns ganz persönlich zum Vorteil gedeihen kann, sondern fühlen, wie das Leben uns gemeint, welchen Platz es uns zugedacht hat, dann stellt er sich leise und fast unmerklich ein: der innere Frieden.

Autorin
Verena Grein, Jahrgang 1983, Magistra Artium in Deutscher Philologie, Philosophie und Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft, ist Redakteurin und Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Praxis in Kronberg im Taunus. Ihre Schwerpunkte liegen auf der systemischen Gesprächstherapie, der Hypnoanalyse und Hypnotherapie.