Liebe Leserin, lieber Leser,
dies ist nicht die Stelle von Buchbesprechungen. Dennoch will ich hier eine Ausnahme machen. Ein Buch, über das vor geraumer Zeit in der Öffentlichkeit heftig gestritten wurde, hat mich dazu animiert: „Demenz“ von Tilman Jens, dem Sohn des an Alzheimer erkrankten bekannten Rhetorikprofessors Walter Jens aus Tübingen.
Wie war der Sohn in der Öffentlichkeit zerrissen worden: als Nestbeschmutzer, der intimste Geheimnisse nach außen kehrt, als jemand, der seinen Vater im Nachhinein „fertig machen“ will, insbesondere wegen dessen verschwiegener Mitgliedschaft in der NSDAP.
Ich habe das Buch gelesen. Von Gehässigkeit kann ich weit und breit nichts erkennen, ganz im Gegenteil. Allerdings werden die Dinge ungeschminkt und ehrlich angesprochen, in einer gut lesbaren, nachvollziehbaren und oft humorvoll-ironischen Sprache.
So beschreibt er die Askese als Lebensprinzip seiner Eltern – „angestoßene Pfirsiche tun es auch“ – oder etwa die „Todsünde“, als Gast im Elternhaus beim Essen zu schweigen: „Wer nur stumm vor sich hinlöffelte, brauchte nicht wiederzukommen.“
Ohne Schönfärberei wird beschrieben, wie in den letzten Lebensjahren zunächst Depressionen, dann der geistige Verfall des Vaters immer mehr einsetzte. Gegen die Depressionen half lange Zeit „Chemie“ recht gut. Doch dann zeigten sich immer mehr die Symptome des Vergessens.
„Antidementiva“, also teure Arzneimittel gegen Alzheimersyndrome („länger ich“ – wie die Werbung verspricht), helfen für einige Monate, dann bricht der Effekt schlagartig ab.
Walter Jens hatte in einer Fernsehsendung 1996 formuliert: „Ich glaube nicht, dass derjenige, der am Ende niemanden mehr erkennt von seinen nächsten Angehörigen, im Sinne des Humanen noch ein Mensch ist. Und deshalb denke ich, sollte jeder bestimmen können, dann und dann möchte ich, dass ich sterben darf.“ Und Tilman Jens schreibt: „Der Alltag mit Demenz, der Verfall eines Ichs, lässt sich nicht freundlich verklären.“
Als die Krankheit weit genug fortgeschritten ist und die Beschwernisse für die Angehörigen kaum noch zu schultern sind, entscheidet sich die Familie Jens zu einem ungewöhnlichen Schritt: Eine bislang nur als Haushaltshilfe tätige langjährige Bekannte wird fest eingestellt. Sicher eine Maßnahme, die für die allermeisten Betroffenen schon aus finanziellen Gründen nicht möglich ist. In diesem Fall kümmert sich die Betreuerin rund um die Uhr um den Vater. Als robuste Bäuerin weiß sie zuzupacken und erahnt intuitiv die Bedürfnisse des Kranken. Oft nimmt sie ihn mit auf ihren Bauernhof.
Walter Jens, einst Schriftsteller, Kritiker, Übersetzer und auch politisch engagierter Intellektueller, ist zu diesem Zeitpunkt längst ein anderer geworden. Er lebt nicht mehr im Geist, sondern – wie der Sohn schreibt – im „Kreatürlichen“: Er freut sich an Kuchen mit Kirschsaft, an Hasen, Hunden und wenn Menschen ihn grüßen. Er freut sich mitunter wie ein Kind. „Sieht so ein Leben aus, das im Sinne des Humanen keines mehr ist?“
Hüten wir uns also vor vorschnellen Urteilen bei solch komplexen Fragestellungen.
Mit nachdenklichen Grüßen bin ich