Liebe Leserin, lieber Leser,
Untersuchungen des Institutes für Demoskopie in Allensbach liefern in bezug auf die Naturheilkunde beständig gute Werte: Seit Jahren äußern sich rund 80 Prozent der Bevölkerung „positiv“ über Naturheilverfahren oder empfinden bei diesem Begriff spontane Sympathie.
Was die Verankerung der Naturheilkunde im Gesundheitswesen anbelangt, sieht es dagegen völlig anders aus. Der „Expertenkreis Naturmedizin“, ein Arbeitskreis von Wissenschaftlern und Ärzten, konnte in einer Umfrage unter 36 deutschen Universitäten mit medizinischer Fakultät herausfinden, daß lediglich zwei über einen Lehrstuhl für Naturheilkunde verfügen (FU Berlin und Ulm), nur 22 Universitäten ein naturheilkundliches Lehrangebot unterbreiten und an zwölf Universitäten überhaupt keine entsprechenden Veranstaltungen stattfinden. Daß Ernährungsmedizin und Bewegungstherapie Teil der Naturheilkunde sind, scheint völlig unbekannt.
Eigenartig widersprüchlich ist auch die Umfrage unter Studenten: Beim Begriff „Naturheilkunde“ denken 96 Prozent an Akupunktur, gut 70 Prozent an Homöopathie. Nur elf Prozent wissen, daß es eine Phytotherapie, also eine wissenschaftlich erforschte Heilpflanzentherapie gibt. Obwohl Studenten prinzipiell großes Interesse an Naturheilverfahren signalisieren, ist die Beteiligung an den wenigen universitären Angeboten dürftig. Bei Ärzten sieht es nicht anders aus: Die Zahl der Teilnehmer an Kursen zur Erlangung der Zusatzbezeichnung nimmt seit Jahren kontinuierlich ab. Naturheilkunde stark im Kommen? Seit Jahren höre ich diese Botschaft – doch, allein, mir fehlt der Glaube …
Der „Expertenkreis Naturmedizin“ möchte deshalb als ersten Schritt erreichen, wenigstens den bereits erforschten naturheilkundlichen Arzneimitteln eine höhere Anerkennung in der wissenschaftlichen Medizin zu verschaffen. Ferner sollen die Untersuchung naturheilkundlicher Verfahren weiter vorangetrieben und das Lehrangebot an den Universitäten verbessert werden.
Dabei bleibt der chronische Nachteil der Naturheilkunde bestehen: Welcher Industriezweig hätte ein nachhaltiges Interesse an der Erforschung von Naturheilverfahren? Eben! Weil es keine mächtigen Wirtschaftsinteressen für die Naturheilkunde gibt, wird sie bestenfalls das geduldete fünfte Rad am Wagen sein. Wer könnte dies ändern? Der Patient. Doch der verhält sich oft wie die Studenten: Großes Interesse, aber wenn es darauf ankommt, wählen viele doch lieber den bequemen Weg: Naturmittel? Unbedingt! Cortison absetzen? Sofort – im Zweifelsfall aber weiterhin Schweinebraten essen.
An ein „neues Denken“ glaube ich nicht, weil dem Menschen bestimmte Eigenschaften immanent sind. Demzufolge ist ein „all inclusiv“-Urlaub auf einer fernen Insel „naturgemäßer“ als freiwilliger Verzicht und Maßhalten. Naturgemäß ist bei vielen aber auch der Wunsch zu sparen: Dementsprechend böten finanzielle Anreize für Gesundheitsbewußte den stärksten Hebel, naturheilkundliche Verfahren stärker zu verbreiten. Der gegenwärtige Kostendruck in nahezu allen Wirtschaftsbereichen könnte diese Entwicklung begünstigen.