Liebe Leserin, lieber Leser,
nicht, daß die neuesten Erkenntnisse über mögliche Risiken der Hormonbehandlung ein Anlaß für Schadenfreude wären. Es ist noch nicht lange her, da behaupteten Gynäkologen mit nachdrücklicher Vehemenz – ich habe es persönlich gehört und erlebt –, keine Hormone in den Wechseljahren zu geben, sei „unterlassene Hilfeleistung“ oder ein „Kunstfehler“, der den „Tatbestand der groben Fahrlässigkeit“ erfülle. Ein weiteres Statement einer Gynäkologin lautete: Sich gegen Hormone auszusprechen, heißt gegen die Natur zu sein, da Hormone „natürlich“ sind!
Bereits seit einigen Monaten häufen sich Äußerungen in der Fachpresse, die Indikation zur Hormonsubstitution sollte „selbstverständlich individuell“ erfolgen – was denn eigentlich sonst?
Jahrelang hatte man doktrinär behauptet, Hormonsubstitution habe aus-schließlich günstige Wirkung: Sie stabilisiere den Knochen, verhindere Herzinfarkte, vermindere die Rate an Unterleibskrebs und wirke sich überhaupt positiv auf die gesamte Befindlichkeit der Frau aus. Nennenswerte Risiken seien nicht bekannt. Die Unterstellung, möglicherweise würde die Brustkrebsrate erhöht, wurde als reine Polemik abgetan.
Nun mußte in den USA eine große Studie mit einem Östrogen/Gestagen-Kombinationspräparat abgebrochen werden, weil sich schon während der Studie eine erhöhte Rate an Herzinfarkten und Krebsfällen ereignete. Erstaunlicherweise erfährt man mittlerweile, daß auch die Festigung der Knochensubstanz durch Hormone keineswegs wissenschaftlich gesichert sei, obwohl genau dies jahrelang behauptet wurde.
In Deutschland beeilen sich nun flugs entsprechende Fachleute zu relativieren: Man könne die Ergebnisse aus den USA nicht so ohne weiteres auf Deutschland übertragen. Außerdem wurde in der amerikanischen Studie ein Kombinationspräparat getestet. Noch nicht bekannt sei die Auswirkung einer alleinigen Östrogengabe.
Mich erinnert dieses Zurückrudern an manchen Aktienanalysten, der uns eben noch einreden wollte, eine EDV-Firma mit 200 Mitarbeitern sei mehr wert als ein Weltunternehmen. Jetzt, wo der Spuk am Neuen Markt vorbei ist, fordert man den Kleinanleger auf, „Ruhe zu bewahren“. Ruhe, die die sogenannten Fachleute offenbar nicht haben.
In der Quintessenz lernen wir daraus folgendes: Wissenschaftliche Studien in der Medizin bieten niemals Hundertprozent-Wahrheiten, sondern nur Hinweise. Sie liefern keine absolute Sicherheit. An der jeweiligen Beurteilung des Einzelfalles führt kein Weg vorbei. Und ferner: Vieles, was als Stand der Wissenschaft gilt, ist keineswegs nach modernen Standards wirklich wissenschaftlich erwiesen. Ob Impfungen, Gebärmutterentfernungen oder Chemotherapie, die Liste ist lang.
Ich möchte noch weiter gehen: Stand der Wissenschaft scheint mir in vielen Fällen lediglich die Privatmeinung von Medizinprofessoren zu sein. Ein bißchen weniger Hochschulgläubigkeit und mehr Kritikfähigkeit an den je-weils gültigen Doktrinen ist daher am Platze.