Liebe Leserin, lieber Leser,
als Arzt wird man täglich mit einer Fülle von Zeitschriften zugeschüttet, die man nie abonniert hat. Meist handelt es sich um medizinische Fachzeitschriften aus den verschiedensten Gebieten. War dieser Papierwust anfangs oft störend, habe ich in den vergangenen Jahren zunehmend den Wert dieser Informationsflut entdeckt. Sonst wäre es kaum möglich, in kurzer Zeit derart kompakte Informationen über die verschiedensten Fachgebiete zu erhalten. Wo früher häufig Langeweiler-Artikel mit unverständlichen Statistiken dominierten, finden sich heute zahlreiche kompetente und auch für die Praxis gut umsetzbare Fachartikel.
Völlig aus diesem Rahmen heraus fiel kürzlich ein Beitrag in der Zeitschrift „Notfall- und Hausarztmedizin“. Ein Soziologieprofessor aus Neubrandenburg ereifert sich dort über den, wie er es nennt, „Beratungswahn“, der auch in der heutigen Medizinlandschaft herrsche, und er sieht darin eine „unfaßbare Verzettelung der therapeutischen Alltagsarbeit“.
Weiter heißt es wörtlich, der moderne Patient „ist nämlich verwöhnt durch eine beratungsexzessive Umwelt, durch einen gesellschaftsweit grassierenden polymorph-perversen Beratungsschamanismus. Sie ist nicht auf Exaktheit aus, nicht auf Ingenieurmäßiges, sie will das Gegenteil: diffuse (also zur Not abwehrbare) Berücksichtigung ihrer Seelen- und Stimmungslagen. Sie bevorzugt Esoterik auf höherem Niveau, etwa die absurde Mythologie der Ganzheitlichkeit, sie re-animiert die Epoche der Empfindsamkeit, sie will eine Art punktueller Spezialgeselligkeit, und sie reagiert frustriert, wenn dafür wenig oder gar keine Zeit verfügbar ist.“
Wenn jetzt in Ihnen ob solcher Aussagen die nackte Wut aufsteigt, kann ich Ihnen sagen: Früher hätte ich mich auch geärgert. Heute kann ich schallend lachen über diesen Jargon. Es ist ja überhaupt so, daß man vieles im Gesundheitswesen nur durch eine gehörige Portion Ironie und Selbstironie ertragen kann.
Im weiteren folgert der genannte Autor schließlich: Beratung sei „Verzögerungs-Zeit“ und „Zeitaufpumpung“ in einer atemlos gewordenen Welt. Das Ganze soll wohl bedeuten: Beratung mache zwar keinen Sinn, verschaffe dem modernen Menschen aber ein paar Atempausen.
Mag langes Debattieren im medizinischen Notfall fehl am Platze sein. Doch vor allem bei chronischen Erkrankungen und Risikofaktoren besteht häufig Informations- und Klarstellungsbedarf. Übrigens nicht nur für den Laien, auch für den Fachmann. Die sachkundige Beratung macht dabei durchaus Sinn und führt zu besseren Ergebnissen. Von wegen „Verzettelung der therapeutischen Alltagsarbeit“!
Sicher, Telefontarife, das Steuerrecht oder die Bedingungen deutscher Lebensversicherungen bleiben auch bei intensivster Beratung unverständlich. Doch für medizinische Fragen belegen Untersuchungen: Wer sich bei einer Krankheit gut informiert und wer gut beraten wird, entfaltet eine bessere „Compliance“ – arbeitet also intensiver an seiner Gesundung mit – und hat höhere Heilungschancen. Zuletzt hat dies eine Studie der Uniklinik Heidelberg bestätigt (siehe Naturarzt 9/2006, S. 48).
Mag der Professor aus Neubrandenburg sagen, was er will: Auch unsere Zeitschrift sieht ihre Aufgabe darin, Ihnen als Leser Informationen an die Hand zu geben, letztendlich also zu beraten. Dafür nehmen wir gern das Etikett „Zeitaufpumper“ an.
Mit den besten Grüßen