Dr. med. Werner Frase

Periphere Polyneuropathie – Mit Kribbeln in den Beinen fängt es oft an

Unter einer peripheren Polyneuropathie versteht man die Schädigung derjenigen Nerven, die außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks verlaufen. Das Problem ist alles andere als selten – Diabetes oder Alkoholkonsum sind in den meisten Fällen die Ursache. Die Polyneuropathie entwickelt sich oft über viele Jahre unerkannt. Dies kann sogar zu einem – unbemerkten ! – Herzinfarkt führen. Das Wort "peripher" im Begriff "periphere Polyneuropathie" (PNP) bezieht sich auf das periphere Nervensystem im Gegensatz zum Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark). Es bedeutet nicht, daß das Problem "peripher" im Sinne von randständig oder unwichtig wäre. Die PNP ist eine ziemlich gefährliche Erkrankung bzw. eine gefährliche Folge verschiedener Erkrankungen. Tückischerweise beginnt sie schleichend, und es lassen sich lange keine auffälligen Symptome erkennen. Die ersten wahrnehmbaren Symptome zeigen sich meist als Mißempfindungen (Kribbeln) an den Beinen. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß bei einer peripheren Polyneuropathie grundsätzlich alle peripheren Nerven betroffen sein können, also auch an inneren Organen! Das ist besonders gefährlich, da sich eine PNP über viele Jahre entwickelt und eventuelle Funktionsstörungen der inneren Organe leider nur allzu oft als "altersbedingt" abgetan werden. Obwohl in der medizinischen Literatur bis zu über 150 verschiedene Ursachen aufgelistet werden, kann man im großen und ganzen fünf Gruppen erkennen: – Diabetische Polyneuropathie – Alkoholische Polyneuropathie – Toxische Polyneuropathie (Vergiftung, zum Beispiel durch Blei, Thallium, aber auch Medikamente) – Infektiöse Polyneuropathie – Sonstige Ursachen, zum Beispiel Mangel an Vitamin B12 und Folsäure Am häufigsten sind mit jeweils einem Drittel die diabetische und die alkoholische Polyneuropathie. Toxische Formen haben zusammen mit den infektiösen einen nicht unerheblichen Anteil, beide haben in den letzten Jahren zugenommen. Früherkennung des Diabetes ist für die Vorbeugung wichtig Bei der diabetischen PNP liegt meist ein mangelhaft eingestellter Blutzuckerwert vor. Das bedeutet: ganz entscheidend ist die Früherkennung des Diabetes und daran anknüpfend die richtige Therapie unter regelmäßiger Kontrolle des Blutzuckerspiegels. Die alkoholische PNP ist im Grunde genommen auch eine toxische Polyneuropathie, sie beruht auf Schädigungen, die durch regelmäßigen Alkoholkonsum hervorgerufen werden. Es liegt also nicht nur an der absoluten Menge des Alkohols, sondern am regelmäßigen Konsum. Bei der toxischen Polyneuropathie entstehen die Schädigungen der peripheren Nerven durch verschiedene Gifte (Toxine), die entweder von außen zugeführt werden (exogen) wie Medikamente, Gewerbegifte und Schwermetalle oder im Inneren des Körpers entstehen (endogen). Endogene Toxine entstehen beispielsweise bei einer Porphyrie (Enzymdefekt im blutbildenden System) oder bei einer Harnvergiftung (Urämie). Die infektiösen Polyneuropathien können sich als Begleiterscheinung bei den verschiedensten Infektionserkrankungen wie Masern, Herpes und Diphtherie entwickeln. Sehr häufig beobachten wir eine infektiöse Polyneuropathie bei einer Borreliose, einer durch Zecken übertragenen Erkrankung. Zeckenimpfungen helfen, wenn überhaupt, nur bei der Zeckenmeningitis, bei der Borreliose nützen sie nichts. Die Infektion mit den krankheitsverursachenden Bakterien (Borrelia burgdorferi) kommt aber sehr viel häufiger vor als die Zeckenmeningitis. (Siehe den Beitrag zur Borreliose in der NaturarztAusgabe 4/2002.) Wie kommt es nun zu dieser Zerstörung der Nerven? Alle genannten Ursachen führen zu dem gleichen Ergebnis: einer mangelhaften Energie und Nährstoffversorgung der Nervenzellen. Dieser Energiemangel zerstört zunächst die empfindlichsten und energiebedürftigsten Teile der Nerven, die Nervenscheiden, die für eine schnelle Reizweiterleitung verantwortlich sind. Sie bestehen aus ringförmig um den Nerv gelegten Zellen (Schwannsche Zellen), allerdings gibt es nichtumhüllte "freie" Abschnitte. Der Nervenreiz überspringt diese Lücken, die sogenannten Ranvierschen Schnürringe, "hüpft" von Ring zu Ring und leitet sich dadurch sehr schnell weiter. Fehlt einer dieser Ringe, muß der Reiz entlang der Nerven kriechen. Je nachdem, wie viele Ringe schon fehlen, kann dies sehr lange dauern oder gar aufgehoben werden. Das Ödem in der Umgebung des Nervs ist das Problem Beim Diabetes kommt es im Verlauf der Erkrankung – vor allem, wenn der Blutzucker schlecht eingestellt ist – zur Entstehung von bestimmten Zuckerverbindungen: Advanced Glycosilation Endproducts (AGE). Diese führen zu "Verklebungen" der feinen Blut und Lymphgefäße, die die peripheren Nerven ent und versorgen. Außerdem blockieren Ketonkörper, die im Rahmen der fehlerhaften diabetischen Fett-Verstoffwechslung entstehen, einen Multienzymkomplex. Fehlt dieser, kommt es durch Bindung der alpha-Liponsäure zur Einlagerung von Sorbitol, eines Zuckeralkohols, in die Zellen. Im Bereich der Nervenscheiden führen diese beiden Vorgänge zur Bildung eines Lymphödems (Wasseransammlung) und in der Folge zu einer Sauerstoffunterversorgung (Hypoxie) und zu Energiemangel, der in einer Zerstörung der Ranvierschen Ringe mündet. Daher zielt die naturheilkundliche Therapie (siehe unten) darauf, das Bindegewebe zu entschlacken und die Ödeme aufzulösen. Vor allem in Veröffentlichungen in der Laienpresse wird in der Regel nur auf die Beinsymptome hingewiesen. Die Gefährlichkeit der peripheren Polyneuropathie geht aber gerade von dem Befall der inneren Organe aus: Im Magen-Darm-Bereich treten vor allem Störungen der Motorik auf. Völlegefühl, Aufgeblähtsein und zunehmende Verstopfung resultieren daraus. Störungen der mit den Nieren verbundenen Nerven bewirken eine verminderte Durchblutung, weshalb die Nieren den Harn nicht mehr so richtig ausscheiden können. Häufige Harnwegsinfekte kommen hinzu, oftmals schmerzlos als "stumme" Harnwegsinfekte. Dies kann wiederum durch eine aufsteigende Infektion zu weiteren Störungen der Niere führen. Tritt eine periphere Polyneuropathie bei jungen Frauen auf, kann dies zu Störungen in der Produktion und Freisetzung von Eizellen führen. Bei Männern wirkt sich eine periphere Polyneuropathie durch Erektionsstörungen aus. Besonderes Augenmerk sollten wir auf das Herz legen. Im Verlauf einer PNP werden auch die Nerven, die zum oder vom Herzen führen, angegriffen. Die Betroffenen merken nichts von ihren belastungsabhängigen Durchblutungsstörungen – der typische Schmerz, der sonst bei Angina pectoris oder Herzinfarkt auftritt, wird nicht wahrgenommen. Der Patient bemerkt seinen "stummen Infarkt" nicht. Immerhin die Hälfte der Diabetiker stirbt an Herzinfarkt. Nach und nach stirbt der Fuß, und der Patient merkt nichts Wie gesagt, die ersten wahrnehmbaren Symptome oder Hinweise, zeigen sich meist an den Beinen: ein Ameisenkribbeln und ein Taubheitsgefühl an den Unterschenkeln. Mißempfindungen an den Füßen kommen hinzu, oft wird ein Kältegefühl in den Füßen angegeben, obwohl beim Tasten die Fußpulse kräftig sind und der Fuß sich eher warm anfühlt. Im weiteren Verlauf entwickelt sich eine Gangunsicherheit. Man hat das Gefühl, wie auf Watte zu gehen. Der Patient kann nicht mehr empfinden, wie er wo auftritt. Da gerade die Nervenleitung der Beine für das Gleichgewichtszentrum im Kleinhirn wichtig ist, führt dies zu Gleichgewichtsstörungen. Die Patienten schlagen sich die Füße an irgendwelchen Kanten und Ecken wund oder fallen auch des öfteren hin. Die Gefahr eines Schenkelhalsbruches ist vor allem bei älteren Patienten sehr groß. Brennende Schmerzen kommen hinzu, die vor allem in Ruhe und nachts auftreten. Dieses Brennen wird typischerweise erträglicher, wenn sich der Patient bewegt oder seine Füße abkühlt (z.B. indem er sie unter der Bettdecke hervorstreckt). Im fortgeschrittenen Stadium einer peripheren Polyneuropathie werden Schmerzen immer weniger wahrgenommen. Dies ist auch in der Betreuung der Patienten ein besonderes Problem. Verletzungen jeglicher Art, wie sie beim Zehnagelschneiden oder durch zu enges Schuhwerk entstehen können, werden nicht mehr bemerkt. Die Heilungsmöglichkeiten sind aufgrund der schlechteren Stoffwechselsituation (Gefäßschäden) im betroffenen Gebiet deutlich herabgesetzt. Dagegen ist das Risiko einer Infizierung mit Bakterien und Pilzen besonders groß. Wenn diese nicht in den Griff bekommen werden können und damit eine Vergrößerung der Wundfläche verbunden ist, steigt die Gefahr, daß amputiert werden muß. Wenn der Verdacht besteht, läßt er sich leicht bestätigen Die Diagnostik einer peripheren Polyneuropathie ist einfach, sofern überhaupt einmal der Verdacht auf PNP geschöpft wurde. Untersuchungen, die das Berührungs und Schmerzempfinden testen, weisen den Weg: Stimmgabelversuch (Vibrationsempfinden), Zahlenschreiben (auf die betroffenen Areale werden mit einem Stift Zahlen in verschiedenen Größen geschrieben, der Patient sagt, was er davon entziffert), Nadeltestung (stumpf-spitz-Empfinden) und die Wärme-Kälte-Testung sind die gängigsten Verfahren. Hinzu kommt, daß bei einer peripheren Polyneuropathie die Muskelreflexe deutlich herabgesetzt bis aufgehoben sind, und auch das Schweißverhalten (Sudomotorik) ist gestört. Weiterführende Untersuchungen sind die Elektromyographie (EMG), d.h. die Aufzeichnung von Nervenimpulsen im Muskelgewebe, und die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG), die dann die Diagnose absichern. Wurde eine PNP festgestellt, ist es empfehlenswert, auch festzustellen, inwieweit schon innere Organe betroffen sind. Leider wird dies zu wenig beachtet, wobei die Folgen, wie bereits beschrieben, recht dramatisch sein können. Diabetische Polyneuropathie: Die richtige Diät entscheidet Hauptziel in der Behandlung aller Formen der PNP ist es, die Ursache zu beseitigen: z.B. Alkoholentzug, Giftausleitung, sofern möglich. Die diabetische Polyneuropathie ist allerdings schwierig anzugehen. Mehr als 30 Prozent aller Diabetiker weisen schon kurze Zeit nach der Diagnose "Diabetes" eine periphere Polyneuropathie auf, nach fünfjähriger Krankheitsdauer ist sie bereits bei etwa 60 Prozent nachweisbar, wobei die Entwicklung wesentlich davon abhängt, ob der Blutzucker gut eingestellt ist oder nicht. Grundsätzlich ist daher eine strenge Blutzuckerkontrolle und einstellung das wichtigste. Die Mehrheit der Diabetiker könnte durch angepaßte Diät und Bewegung die Krankheit weitgehend selbst in den Griff bekommen und den schwerwiegenden Folgen vorbeugen. Auch wenn es mancher Diabetiker nicht mehr hören bzw. lesen mag: isolierte Kohlehydrate, vor allem Zucker, schaden ihm. Beim Abbau von Kohlehydraten entsteht ein saures Milieu. Allerdings kann auch Fleisch, vor allem Schweinefleisch, zur Übersäuerung führen. Das saure Milieu bewirkt eine Reaktionsstarre im Organismus, das bedeutet, der Stoffwechsel und auch die Ausscheidung von Schadstoffen funktioniert nicht mehr richtig, Medikamente jeglicher Art wirken nicht mehr richtig bzw. werden in ihrer Wirkung unberechenbar. Es gilt also, den Organismus zu "alkalisieren". Am besten geht dies mit einer pflanzlich betonten Ernährung, vor allem Gemüse wirkt basisch. Über die Wirkung von Vollgetreide gehen die Meinungen auseinander. Sicher ist: Wenn es nicht bekömmlich zubereitet und/oder sehr gut gekaut wird, gärt es im Verdauungstrakt und führt zur Übersäuerung. Der naturheilkundliche Therapeut wird die "Alkalisierung" zumindest in der Anfangsphase einer Behandlung durch Gabe von Basensalzen (Bullrich's Vital®, Alkala N®) unterstützen. Die Schulmedizin ist in der Behandlung der diabetischen Polyneuropathie recht hilflos. Obwohl man annehmen könnte, daß die Gabe von alpha-Liponsäure den blockierten Multienzymkomplex (siehe oben) wieder aktiviert, sind Infusionen mit alpha-Liponsäure (Tioctan®, Thioctacid®) selten zufriedenstellend, auch nicht mit nachfolgender Langzeitbehandlung in Tablettenform. Gegen die brennenden Schmerzen werden verschiedene Schmerzmittel eingesetzt, mit zum Teil erheblichen Nebenwirkungen. Die paradoxeste ist die, das sich die PNP dadurch verschlimmern kann. In einigen Fällen zeigen sich positive Effekte durch eine transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS). Bei dieser Methode werden niederfrequente Ströme über Klebeelektroden an den Nerv geleitet und führen zu einer verstärkten Reizleitung. Naturheilkunde versucht das Bindegewebe zu entschlacken Die Naturheilkunde kennt einige Methoden, die eine PNP günstig beeinflussen können. Kneippsche Verfahren wie kalte/warme Wickel, Wechselbäder oder Güsse wirken direkt auf die Blutgefäße und führen zu einer verstärkten Durchblutung (auch der inneren Organe) und zu einem "Gefäßtraining". In der Akupunktur gibt es auch Möglichkeiten, mit denen ein erfahrener Akupunkteur Einfluß auf eine Entschlackung des Bindegewebes nehmen kann: die Punkte MP 3 und 6 (Milz-Pankreas-Meridian), Gb 34 (Gallenblasenmeridian), Ma 36 und 40 (Magenmeridian) sowie der Sonderpunkt PaM 62, der sich nicht in den traditionellen Systematiken findet, aber mittlerweile als Zustimmungspunkt für den Pankreas (Bauchspeicheldrüse) gilt. Er liegt etwas unterhalb von Bl 17 (Blasenmeridian). Die Bindegewebsentschlackung führt zu einem verstärkten Abtransport der durch den Zucker gebildeten AGE über die Lymphe und zur Abnahme der Wasseransammlungen um den Nerven. Der Nerv kann wieder besser ernährt werden und die weitere Zerstörung der Nervenscheiden kann verlangsamt werden. In der Homöopathie gibt es Mittel, die einen Bezug zur typischen PNP-Symptomatik haben: Unter anderem können Plumbum metallicum D20 und Secale cornutum D6 in manchen Fällen helfen. Im großen und ganzen ist aber auch hier die Entschlackung des Bindegewebes erfolgversprechender. Wichtige Bindegewebsmittel sind Silicea und Graphites. Während Silicea seinen Einfluß mehr auf die Struktur des Bindegewebes ausübt, aktiviert Graphites die Ausscheidung der Schadstoffe. Diese Kombination – die Struktur verbessern und die Ausscheidung steigern – kann durch die Gabe von Acidum fluoricum und Equisetum verstärkt werden. Diese Homöopathika werden in der Regel in einer Potenz zwischen D4 und D6 gegeben. Eine Wirkungsverstärkung sieht man, wenn diese Mittel in Form homöopathischer Komplexmittel gegeben werden. Präparate wie Solidago compositum SN®, Graphites Homaccord®, Lymphomyosot N®, Silicea Similiaplex®, Lymphaden®-Hevert und Steirocall®N seien hier erwähnt. Neueste Studien mit Lymphomyosot N haben ergeben, daß es zu einer deutlichen Verbesserung der Beschwerdesymptomatik bei der diabetischen Polyneuropathie gekommen ist. Weiterführende Literatur: – E. Standl/H. Mehnert: Das große TRIAS-Handbuch für Diabetiker, Trias, Stuttgart 1998 – K.H. Nedder: Diabetes im Alter – Informationen für Senioren, Trias, Stuttgart 2002 – H.H. Jörgensen: Säure-Basen-Haushalt: Ein Drahtseilakt des Körpers, in: Naturarzt, 6/2001 Dr. med. Werner Frase, Jahrgang 1947, studierte Medizin und Mathematik/Informatik. Zunächst chirurgische Ausbildung, danach Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren. Niederlassung in eigener Praxis 1981. Seit 1994 Leitung der Geschäftsstelle und seit 1998 Vizepräsident der Internationalen Gesellschaft für Homotoxikologie e.V.