Dr. med. Rainer Stange

Infektneigung, Schlafprobleme, niedriger Blutdruck? – Kneippen bei jeder Gelegenheit

Wasser, Wärme, Licht und Luft – mit diesen natürlichen Mitteln zu heilen hat eine lange Tradition und geht bis in die Anfänge der Medizin zurück. Neben Vinzenz Prießnitz (1799-1851) zählt Pfarrer Sebastian Kneipp (1821-1897) zu den bekanntesten Verfechtern einer Behandlung mit Wasser. Seit über 100 Jahren wird die Kneipp-Therapie von Ärzten und Heilpraktikern bei einer Vielzahl von Krankheiten erfolgreich angewandt. Sie eignet sich aber auch hervorragend zur Selbstbehandlung und Vorbeugung beispielsweise bei chronischer Infektneigung, Schlafproblemen und niedrigem Blutdruck. Die Hydrotherapie, bei der mit Wasser Krankheiten behandelt werden, bildet eine der fünf Säulen der Kneipp-Therapie neben Ordnungs-, Ernährungs-, Bewegungs- und Pflanzentherapie (Phytotherapie). Während sich Ernährungstherapie und Pflanzenheilkunde bis heute stetig gewandelt und erweitert haben, blieb die Hydrotherapie nach Kneipp seit über 100 Jahren fast unverändert. Heilen mit Wasser ist nicht nur eine natürliche, sondern auch recht einfache Behandlungsmethode. Sie kann von jedem medizinischen Laien erlernt und angewandt werden. Gerade in bezug auf Vorbeugung ist die Wassertherapie ein wertvolles Hilfsmittel. Zwar hat sie auch ihre Grenzen, vor allem dort, wo die Selbstheilungskräfte zu sehr geschwächt sind. Doch gerade bei der Vielzahl von chronischen Krankheiten, bei denen die herkömmliche Medizin oft nur kurzfristig die Symptome zu lindern vermag, ist Kneippsche Eigeninitiative der Betroffenen gefragt. Sehr gute Erfolge erzielt die Hydrotherapie bei Schlafstörungen, Erkältungskrankheiten wie Infekten der Atemwege und der Harnwege sowie bei Herz- und Kreislauf-Erkrankungen. Gerade Schlafstörungen sind heute zu einem wahren Massenleiden geworden. Ein Großteil des Gebrauchs und zum Teil auch des Mißbrauchs von Psychopharmaka ist darauf zurückzuführen. Doch schon zu Kneipps Lebzeiten muß dieses Leiden sehr verbreitet gewesen sein. So schreibt er in seinem Buch "Meine Wasserkur": "Die Schlaflosigkeit, diese aufsässige Verfolgerin vieler ...". Kalte Sitzbäder sorgen für einen erholsamen Schlaf Bei Schlafstörungen bieten sich drei verschiedene Anwendungsformen der Wassertherapie an. Wohl am leichtesten durchführbar und auch sehr weit verbreitet dürfte der Kneippsche Schlafstrumpf beziehungsweise die Schlafsocke sein, bei der ein dünner Strumpf, besser ein grobes Leinentuch, in kaltem Wasser ausgewrungen und um den Fuß geschlagen wird. Darüber wird eine kräftige Wollsocke gezogen. Diese Maßnahme kann bis zur Wade erweitert werden, wobei sich dann anbietet, feuchte Tücher in Form eines Wadenwickels anzulegen. Darüber wird eine dicke Wolldecke geschlagen. Einfach und bequem ist auch ein warmes Fußbad durchzuführen, das vor dem Schlafengehen sogar auf dem Bett sitzend genommen werden kann. Hierüber äußert sich Kneipp in seinem Buch "Meine Wasserkur": "Landleute hört man oft sagen: ein warmes Fußbad schließt die Augen, wenn Anstrengung und Müdigkeit nicht einschlafen lassen. Bei geistiger Ermüdung wird jenes kaum ausreichen." Auch er war sich der psycho-vegetativen sowie durch das Alter und die wechselnden Jahreszeiten hervorgerufenen Einflüsse auf das Schlafverhalten der Menschen bewußt. Kneipp selbst empfahl bei Schlaflosigkeit in erster Linie kalte Sitzbäder, die bei Bedarf nachts mehrmals wiederholt werden können. Dazu wird sich mit dem Gesäß für ein bis zwei Minuten in 12 bis 14 °C kaltes Wasser gesetzt. Da die klassische Kneippsche Sitzbadewanne heute kaum noch in einem Haushalt vorhanden sein dürfte, kann ersatzweise eine Duschwanne, eine Babybadewanne oder eine nur etwa 15 Zentimeter hoch gefüllte gewöhnliche Badewanne verwendet werden. Die Ganzkörperwaschung hat aber ähnliche Effekte. Sie ist ein hervorragendes Mittel bei Schlafproblemen, hilft aber auch allgemein bei nervöser Unruhe (vegetativer Dystonie), regt Haut und Kreislauf sowie das Immunsystem an und dient damit auch der allgemeinen "Abhärtung". Vor der Anwendung muß der Körper warm sein. Einen Waschlappen oder ein Leinentuch in ein Gefäß mit möglichst kaltem Wasser tauchen – anfangs kann das Wasser auch zimmerwarm sein – und die Körperteile einzeln abreiben. Mit dem rechten Arm beginnen, erst außen, dann innen. Genauso mit dem linken Arm verfahren. Es folgen Hals, Brust, Leib und Rücken. Danach werden nacheinander rechtes und linkes Bein außen, vorne, innen und hinten einschließlich Gesäß abgerieben. Zum Schluß kommen rechte und linke Fußsohle an die Reihe. Um die Reizwirkung durch Verdunstungskälte zu verstärken, wird nicht abgetrocknet. Nach der Waschung sich entweder ins Bett legen (eine halbe bis ganze Stunde oder zur Nachtruhe) oder anziehen und bewegen. Solche auf den ersten Blick sehr einfach wirkenden Maßnahmen erfreuten sich früher in der Medizin großer Beliebtheit. Ihnen gemeinsam ist die Vorstellung, daß sich durch die Hydrotherapie eine Verbesserung des Blutflusses und eine bessere Verteilung des Blutes erreichen läßt, um so die übermäßige Blutfülle des Kopfes abzubauen. Inhalation und Armbäder machen die Atemwege frei Bei Infekten der oberen Atemwege, die häufig mit Schnupfen, Husten, Schwellungen und starker Schleimbildung einhergehen, lassen sich mit der Wassertherapie insbesondere zwei Ziele verfolgen. Zum einen werden die Abwehrkräfte gegen Infekte allgemein gesteigert. Zum anderen wird bei einem akuten Infekt der krankhafte Schleim, der mit aggressiven, die Schleimhäute reizenden Abbauprodukten der Entzündungsprozesse beladen ist, gelöst und nach außen befördert. Der Gedanke, mit einer sogenannten unspezifischen Immunstimulation die Abwehr zu steigern, zieht sich quer durch die moderne Kneipp-Therapie. Sebastian Kneipp selbst benutzte übrigens Begriffe wie "Abwehr" oder gar "Immunsystem" nicht, vielmehr sprach er von "Abhärtung". Dieser Begriff trifft zwar besser den Kern der Sache, geriet aber durch seinen Mißbrauch im Zusammenhang mit fragwürdigen Erziehungsmethoden leider in Mißkredit. Die Wassertherapie eignet sich besonders bei folgenden Infekten der oberen Atemwege: – Schnupfen – Nasennebenhöhlenentzündung – Entzündung des Rachens – Entzündung des Kehlkopfes – Entzündung der Luftröhre In dieser Aufzählung fehlt bewußt die Bronchitis, bei der es sich um eine Entzündung der Luftröhrenäste handelt. Sie geht mit einem quälenden Husten über Tage, oft verbunden mit nächtlichen Luftnotattacken, zähem Auswurf, deutlicher Minderung des Allgemeinzustandes und der körperlichen sowie geistigen Leistungsfähigkeit einher. Da sie zu einer Verengung der Atemwege führen kann, gehört eine Bronchitis immer in die Hand eines Arztes. Bei Infekten der oberen Atemwege kommen folgende Behandlungsverfahren in Frage: – Kopfdämpfe mit und ohne Zusätze – Gesichtsgüsse – ansteigende Armbäder – Brustwickel mit und ohne Zusätze Nicht zu unterschätzen ist die Rolle des Fiebers bei der Ausheilung von Atemwegsinfektionen. Fieber sollte als Ausdruck einer intakten Abwehr angesehen und keinesfalls reflexartig mit Antibiotika bekämpft werden. Richtig angewandte Wassertherapie kann hier die Abwehrreaktionen des Organismus zusätzlich unterstützen, das heißt, als Folge davon kann die Körpertemperatur sogar zunehmen. Steigt die Fieberkurve jedoch zu stark an (auf über 40 °C), sollte mit Kaltwaschungen und kalten Wadenwickeln entgegengewirkt werden. Im Notfall, beim Auftreten von Fieberkrämpfen und drohender Bewußtlosigkeit, hilft das kurzzeitige Eintauchen in kaltes Wasser (Badewanne). Kurze, kalte Reize helfen dem Kreislauf auf die Sprünge Da es sehr viele verschiedene Herz- und Kreislauf-Erkrankungen gibt, muß nach der Art der Erkrankung unterschieden werden. Nicht jede Kneippsche Anwendung eignet sich für jedes Leiden. Auch hier sollte vor der Selbstbehandlung ein Arzt befragt werden. Mit Wasseranwendungen recht gut selbst zu behandeln ist die Neigung zum niedrigen Blutdruck (Hypotonie). Die Betroffenen klagen über Schwindel, Anlaufschwierigkeiten vor allem morgens sowie ständig kühle Arme und Beine. Blutdruckmessungen zeigen Werte unter 100 zu 60 Millimeter Quecksilbersäule (mmHg). Die Beschwerden können durch große Hitze, Wetterwechsel, Streß und bei Frauen auch während der Regel verstärkt auftreten. Sie begleiten die Betroffenen meist das ganze Leben. Kalte Anwendungen nie auf einen kalten Körper! Bei niedrigem Blutdruck lautet die Grundregel: kalte Reize kurz, aber häufig einsetzen. Daneben helfen auch mechanische Anregungen des Blutkreislaufs beispielsweise durch Trockenbürstungen. Die bewährtesten Mittel sind: – Trockenbürstungen – kalte Abwaschungen – kaltes Wassertreten – kalte Kniegüsse – wechselwarme Beinbäder Bei allen Kaltanwendungen ist zu beachten, daß sie nie auf einem kalten Körper angewandt werden dürfen. Vorher ist immer für ausreichende Erwärmung, zum Beispiel durch Bewegung, zu sorgen. Die Behandlung des zu niedrigen Blutdrucks erfordert Geduld. Doch kombiniert mit ausreichender Bewegung – geeignet sind Laufen, Radfahren oder Schwimmen – kann die Wassertherapie langfristig zum gewünschten Erfolg führen. Darüber hinaus lassen sich folgende Herz- und Kreislauf-Erkrankungen ebenfalls gut mit der Wassertherapie nach Kneipp behandeln: – Bluthochdruck (Hypertonie) – arterielle Durchblutungsstörungen – koronare Herzkrankheit – Herzschwäche (Herzinsuffizienz) – Herzrhythmusstörungen Die Behandlung dieser Erkrankungen bleibt aber dem fachkundigen Arzt vorbehalten. Er sollte auch über den Einsatz von Kneippmaßnahmen entscheiden. Die Kunst besteht darin, die richtigen Reize zu wählen, die dem Schweregrad der Erkrankung und den konstitutionellen Eigenheiten des Erkrankten gerecht werden. Dabei müssen insbesondere das Alter und die Vorgeschichte des Kranken berücksichtigt werden, da dadurch das Regulationsvermögen möglicherweise entscheidend eingeschränkt ist. Eine Maßnahme, die normalerweise den Blutdruck senkt, kann dann sogar das Gegenteil bewirken. Sinnvoll eingesetzt, kann die Wassertherapie nach Kneipp bewirken, daß mitunter seit Jahren eingenommene Medikamente im Interesse des Patienten verringert oder gar ganz abgesetzt werden können. Weiterführende Literatur: – B. Uehleke, H.-D. Hentschel: Vorbeugen und heilen mit der Kneipp-Methode, Ehrenwirth, Bergisch-Gladbach 1998 – M. Fehrenbach: Kneipp von A-Z. Das Gesundheitsbuch für alle, Ehrenwirth, Bergisch-Gladbach 2001 – E. Tschebull, H. Krammer: Mit Kneipp vorbeugen, lindern, heilen, Kneipp-Verlag, Leoben 2001 Dr. med. Rainer Stange, geboren 1949, nach Physik- und Medizinstudium seit 1983 klinische Tätigkeit (Radiologie, Innere Medizin und Naturheilkunde), 1989 bis 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Naturheilkunde der Freien Universität Berlin, seit 1992 Vorsitzender der Ärztegesellschaft für Naturheilverfahren (Physiotherapie) Berlin-Brandenburg e.V., seit 1994 Oberarzt der Klinischen Abteilung des Lehrstuhls für Naturheilkunde (seit 2001 im Immanuel-Krankenhaus, Berlin-Wannsee).