Dr. med. WolfJürgen Maurer
Minderwertigkeitsgefühle – Beachtet mich!
Menschen mit einem Minderwertigkeitsgefühl denken, daß sie selbst nicht liebenswert sind, nicht okay, nicht gut genug. Sie glauben, daß andere sie von vornherein zurückweisen würden, wenn sie wüßten, wer Sie wirklich sind. Und so geben sie sich die größte Mühe, ihr wahres Selbst hinter einer Maske zu verstecken – obwohl nichts an ihnen verkehrt ist, außer ihrem Gefühl der Angst. Doch unsere früh verinnerlichten Grundüberzeugungen lassen sich verändern. Werden Sie der Architekt Ihres eigenen Schicksals.
Machen Sie sich ständig Sorgen darüber, was andere über Sie denken? Überlegen Sie stets, was in zwischenmenschlichen Situationen alles schief gehen und wie Sie sich blamieren könnten? Grübeln Sie im nachhinein darüber nach, was Sie Ihrer Meinung nach falsch gemacht haben? Versuchen Sie sich so zu verhalten, daß Sie so wenig wie möglich auffallen? Bleiben Sie lieber zu Hause als zu einer Party zu gehen, um "auf Nummer sicher zu gehen"? Haben Sie meist das Gefühl, Sie müßten Ihr Verhalten erklären, sich rechtfertigen? Fällt es Ihnen schwer, eine abweichende Meinung anderen gegenüber zu vertreten und sagen Sie oft "Ja", wenn Sie eigentlich "Nein" meinen? Dann fühlen Sie sich in sozialen Situationen wahrscheinlich häufig verspannt, unwohl, bekommen Herzklopfen, Schwindel oder Angstgefühle, fühlen sich unsicher, traurig, verstimmt. Sie sind neidisch und wütend auf andere und laufen Gefahr, all diese negativen Gefühle mit Alkohol, Drogen oder Tabakkonsum zu betäuben.
Bloß keine Aufmerksamkeit auf sich lenken!
All dies sind Zeichen und Symptome von Minderwertigkeitsgefühlen, geringem Selbstvertrauen und sozialer Ängstlichkeit. Diese Minderwertigkeitsgefühle führen zu Vermeidungsverhalten: Sie machen Dinge nicht mehr, die Sie eigentlich gerne tun, allein deswegen, weil es Angst auslösen könnte. Sie versuchen, Ihr Verhalten immer mehr abzusichern. Bloß keine ungewollte Aufmerksamkeit auf sich lenken!
Soziale Ängstlichkeit bewirkt das Gefühl, anders zu sein als andere und zwar im negativen Sinne: Sie kommen sich weniger gut oder merkwürdig vor. Sie erwarten, daß andere Menschen Sie ignorieren oder zurückweisen. Handlungsweisen anderer interpretieren Sie falsch. Sie glauben, daß man sowieso schlecht über Sie denkt. Ständig sehen Sie sich in Gefahr, Kritik ausgesetzt zu werden.
Dabei geht so viel Energie drauf, daß dies Auswirkungen auf die eigene Leistungsfähigkeit hat. Weiterhin ist es frustrierend, Teile seiner Persönlichkeit zu unterdrücken, so daß es nicht überraschen muß, wenn diese Verhaltensweisen dauerhaft zu Niedergeschlagenheit und schlechter Stimmung führen.
Vorstellungen, wie man zu sein hat, hören sich so an:
– Ich muß interessant oder amüsant sein, sonst mögen andere mich nicht
– Ich muß alle Sachen richtig machen, wenn ich akzeptiert werden will
– Wenn andere mich kennenlernen wollten, würden sie es mir mitteilen
– Wenn das Gespräch nicht gut verläuft, ist es mein Fehler
– Die Leute würden mich ausnutzen, wenn ich Zeichen der Schwäche zeige.
"Sei doch nicht so dumm" – was Kinder fertig macht
Die früheste Rückmeldung, die Sie erhielten, kam von Ihrer Familie. Die Grundbotschaft, die Sie gespeichert haben, wenn Sie später ein Minderwertigkeitsgefühl entwickeln, war größtenteils negativ: "Mach keine Unordnung! Du machst immer Sachen kaputt! Du tust nie, was man dir sagt! Du machst mich verrückt! Sei doch nicht so dumm! Ich könnte euch Kinder umbringen!" Unsere Eltern liebten uns in der Regel durchaus, häufig kam ihnen jedoch einfach das Leben in die Quere: Wie vermittelt man seinem Dreijährigen, daß er geliebt und einzigartig ist, wenn er dauernd Lippenstift auf die neue Tapete schmiert?
Auch ältere Geschwister sind nicht immer förderlich für ein gutes Selbstbild. Wenn sie uns sagen, wir seien dumm, und sie sind sechs Jahre alt und wir drei, dann muß man ihnen einfach glauben. Sie haben Erfahrung. Sie kennen die Welt. Sie sind schließlich sechs!
Mit Schulbeginn vermehren sich die Probleme. Es sieht wieder so aus, als wüßten alle anderen alles und wir selbst nichts. Und wieder wird verglichen. Die Lehrer ignorieren uns meistens, wenn wir das Richtige tun und gehen auf uns los, wenn etwas nicht richtig gerät. Und wieder tritt das Gefühl auf, daß man nicht in Ordnung ist.
Manche Dinge werden zu groß, andere wachsen gar nicht
In der Pubertät schließlich wird das Leben wirklich hart. Daß man lebt, ist bereits ungeheuer peinlich: Manche Dinge werden zu groß, andere wachsen überhaupt nicht. Währenddessen schaut man täglich fern. Im Fernsehen sieht man reihenweise begabte und attraktive Menschen, die Heldentaten vollbringen. Im Vergleich mit diesen Geschöpfen leidet unser Selbstbild noch mehr. Und dann ist da die Werbung, die uns über all die Dinge informiert, die wir unbedingt haben müssen, uns aber nicht leisten können. Die Botschaft lautet: "Wenn du das nicht hast, dann gehörst du nicht dazu, bist du nicht in Ordnung."
Es gibt eine Studie, die anzeigt, daß 98 Prozent der Kinder bereits im Alter von 14 Jahren ein negatives Selbstbild haben. Sie hassen ihren Körper und fühlen sich unzulänglich und unsicher. Ob sich daraus ein Minderwertigkeitskomplex entwickelt, darüber entscheidet allein die Art des Umgangs wichtiger Bezugspersonen mit unseren Grundbedürfnissen: Von Familie und Freunden geschätzt, geliebt und akzeptiert zu werden vermittelt das Gefühl des eigenen persönlichen Werts, unseres Selbstwerts. Das bildet den Rahmen und die Bedingungen zum Aufbau von Selbstvertrauen und schafft Vertrauen in andere Menschen. Fallen Urteile jedoch zu hart, zu allumfassend oder zu beharrlich aus, erfolgen sie willkürlich und unabhängig davon, was tatsächlich passiert ist, wird das Vertrauen in uns selbst und in andere Menschen untergraben. Das gilt auch, wenn Kritik nicht durch ausreichend Lob und Anerkennung abgemildert wird.
Nachdem Sie jetzt wissen, woher Ihr schlechtes Selbstbild stammt, können Sie die Schuld ja getrost auf andere abschieben oder? Falsch! Wenn wir anderen die Schuld geben, zum Beispiel den Eltern, machen wir uns zum Opfer, das keine Verantwortung trägt, und keine Möglichkeit hat, etwas zu verbessern. Aber ein negatives Selbstwertgefühl ist nicht genetisch festgelegt, nicht mit einer schwierigen Kindheit ein für allemal festgeschrieben.
Gefährlich ist, was wir selbst über uns denken
Die inneren Selbstgespräche, mit denen wir uns ständig täglich kommentieren, entscheiden darüber, wie wir uns fühlen. In einem Experiment habe ich einer jungen Patientin mit einer Eßstörung und deutlich mangelhaft ausgeprägtem Selbstvertrauen den Auftrag gegeben, mit Hilfe eines Kassettenrecorders einen Tag lang sämtliche Selbstgespräche aufzuzeichnen. Sie waren äußerst negativ, kritisch und abwertend. Ich fragte sie, nachdem wir einige Passagen davon gemeinsam angehört haben, was sie denn glaube, wie sich jemand fühlen werde, der sich diese Kommentare den ganzen Tag anhören müßte. Die Patientin sagte: "Na, das ist doch klar, beschissen eben, ebenso wie ich."
Paradoxerweise glauben Menschen mit Minderwertigkeitsgefühlen, daß es besonders wichtig sei, daß andere Menschen gut von ihnen denken. Sie geben ihnen deshalb sehr viel Macht über sich und passen ihr Verhalten an. Aber das Denken anderer Menschen geht uns überhaupt nichts an! Viel wichtiger und gefährlicher ist, was wir selbst über uns denken. Das entscheidet jedenfalls über die Qualität unseres Selbstwertgefühles.
Negative abwertende Botschaften verfolgen manche Menschen den ganzen Tag über, wie wenn in einer alten Schallplatte der Saphir in einer Rille festhängt und immer wieder "die Stimmen der Vergangenheit" abspult. Das ist die Stimme des sogenannten inneren Kritikers, der begierig alle Abwertungen wichtiger Bezugspersonen aufgenommen hat. Diese kritische Haltung hat ur sprünglich eine Schutzfunktion: Bevor mich andere kritisieren, werde ich mich selbst am strengsten maßregeln.
Viele Menschen mit geringem Selbstwertgefühl übertreiben diese Kritik allerdings gewaltig. Alles, was schief geht, lasten sie sich selbst an, Lob aber nehmen sie nie an. Wenn mich jemand lobt, schaue ich hinter mich, ob ein anderer gemeint ist. Ich sage: "Das ist doch nichts Besonderes." Ständig lauert die Verlassenheitsangst. Wenn sie so groß wird, daß ich mir sicher bin, wieder zurückgewiesen zu werden, kann das auch zu einem abweisenden Beziehungsstil führen. Ich verleugne meine Grundbedürfnisse nach Nähe zu anderen Menschen, isoliere mich nach dem Motto: "Ich brauche niemanden". Dann habe ich gelernt, daß Nähe stets mit Verletzung ein hergeht und zu einer Zurückweisung führt. Sobald Nähewünsche bei mir aktiviert werden, bekomme ich Panik und versuche, die sich anbahnende Beziehung zu zerstören.
Ein Minderwertigkeitsgefühl führt auch zu Kommunikationsstörungen. Man äußert seine Meinung, seine Gefühle und Bedürfnisse nicht mehr, wird konfliktunfähig und sucht sich einen Partner, der zum eigenen Rollenverhalten paßt. Meistens eben Partner, die auch irgendeinen Makel haben. Denn an Menschen, die ich wirklich toll finde, traue ich mich nicht heran, weil ich nicht glaube, genug liebenswert zu sein. Oft bin ich enttäuscht über den Partner, den ich mir gewählt habe, lasse an ihm die Wut aus. Und diese Wut gilt eigentlich meinen elterlichen Bezugspersonen.
Gehen Sie auf Entdeckungs-Reise zu sich selbst
Wir müssen uns klarmachen, daß die verinnerlichten Grundüberzeugungen über uns selbst veränderbar sind. Unsere Aufgabe lautet, unser wahres Selbst zu schätzen, uns lieben und so akzeptieren zu lernen, wie wir wirklich sind.
Wir müssen neugierig werden, die lebendige Persönlichkeit entdecken, die sich hinter der Maske des funktionierenden Erwachsenen versteckt. Dies ist eine Entdeckungsreise zu sich selbst mit allen Stärken und Schwächen. Ziel ist es, mich nicht daran zu orientieren, wie ich sein müßte oder sollte, sondern zu entdecken, was alles in mir steckt, also eine faire Bestandsaufnahme zu machen. Erst wenn ich lerne, mich selbst zu mögen, kann ich auch andere mögen und mich wirklich von anderen lieben lassen! Dafür müssen wir lernen, uns mit unseren Grundüberzeugungen und Annahmen auseinanderzusetzen.
Mund halten! Stoppen Sie den inneren Kritiker
– Listen Sie alle Probleme auf, die durch geringes Selbstwertgefühl verursacht und verschlimmert werden (in punkto Liebesbeziehungen, Verwandte, Arbeit, Begegnung mit neuen Leuten, Ausprobieren von neuen Dingen).
– Fangen Sie Ihren eigenen Kritiker ein: Hören Sie wie ein Detektiv Ihren eigenen inneren Monolog nach selbstkritischen Urteilen ab und schreiben Sie sie in ein Notizbuch. Stoppen Sie den inneren Kritiker: Mit einem klaren inneren "Mund halten!"
– Die Angst vor dem großen bösen Kritiker verlieren: Visualisieren Sie ihn wie eine Person, stellen Sie sich ihn einfach nackt vor oder als windbeuteligen Politiker, Jahrmarktschreier, Clown oder Verrückten.
– Nennen Sie dem Kritiker Ihren Wert: Nach "Mund halten!" und "Das kann ich mir nicht leisten" muß das Vakuum mit der positiven Gewißheit Ihres eigenen Wertes gefüllt werden. Begegnen Sie ihm mit positiven Informationen wie "Ich bin so gut wie jeder andere."
– Die Stimme Ihres Freundes oder Anwaltes einführen: Lassen Sie jeden einzeln notierten negativen Vorwurf durch Erwiderung Ihres besten Freundes oder "Anwalts" widerlegen. Lesen Sie öfters die Liste mit den positiven Aussagen durch, um sich an Ihre Qualitäten zu erinnern.
– Schreiben Sie Briefe an Ihre "kritischen Eltern", in denen Sie ihnen mitteilen, was Sie gebraucht hätten und wie es war, es nicht zu bekommen. Schreiben Sie dann noch einen Antwort-Brief im Tonfall des "idealen Elternteils", wie Sie ihn gerne gehört hätten. Nutzen Sie für sich selbst noch einmal die Chance, eine neue Elternrolle zu übernehmen und erkennen Sie, daß der Mangel Ihrer Kindheit ein Problem Ihres Elternteils war und nichts über den Wert von Ihnen als Mensch aussagt.
– Machen Sie eine realistische und faire Bestandsaufnahme: Was ist gut an mir, welches sind meine Fähigkeiten und Stärken? Visualisieren Sie positive Lebensziele, kurz wie langfristig: Wie würde ein Leben mit einem positiven Selbstwertgefühl aussehen?
– So tun als ob: Selbstwert-Gefühl entsteht dadurch, daß wir jetzt bereits das tun, was wir tun würden, wenn wir es besäßen. Tun Sie die Dinge, die Sie als richtig und wichtig erkannt haben jetzt! ? Erkennen Sie, daß Eigensinn Spaß macht. Versuchen Sie nicht, konform zu sein, sondern öfters mal etwas anderes auszuprobieren, sich von anderen zu unterscheiden – und merken Sie, daß Sie dadurch erst Respekt gewinnen.
– Übernehmen Sie Verantwortung für sich selbst: Ihre Bedürfnisse sind genauso wichtig wie die von anderen Menschen. Seien Sie sich selbst ein guter Freund und fairer Partner. Durch Eintreten für eigene Ziele, Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse und Wertvorstellungen wird das eigene Selbstwertgefühl erhöht.
Besuchen Sie eine Selbsterfahrungsgruppe, um sich und Ihr Rollenverhalten besser kennenzulernen oder bemühen Sie sich um Psychotherapie, zum Beispiel kognitive Verhaltenstherapie.
Weiterführende Literatur:
– Ch. P. Dogs/W. Maurer: Naturheilverfahren und Psychosomatik, Hippokrates, Stuttgart, 1998
– M. Jung: Das häßliche Entlein, emuverlag, Lahnstein, 2001
– G. Butler: Schüchtern: na und? Huber, Göttingen, 2002
Dr. med.Wolf-Jürgen Maurer
Jahrgang 1961, Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapeutische Medizin, systemischer Paar- und Familientherapie sowie Arzt für Naturheilverfahren, Sportmedizin und Chirotherapie. Dr. Maurer ist leitender Oberarzt einer Fachklinik für Psychosomatik, Psychotherapeutische Medizin und Naturheilverfahren im Allgäu.
Das "Tonnenballett" oder wie man Selbstvertrauen lernen kann
Auch die Wurzel der meisten Eßstörungen liegt in einem Minderwertigkeitsgefühl begründet. Gerade übergewichtige Menschen können sich meist selbst nicht leiden, schämen sich und vermeiden deshalb häufig Dinge zu tun, die sie gerne tun würden, wenn sie erst schlank wären. Sie geraten in eine soziale Isolation und füllen die Leere wiederum mit Essen als Ersatzbefriedigung.
Drei sehr massiv übergewichtige Damen befanden sich zur gleichen Zeit in unserer psychosomatischen Klinik. Sie waren frustriert, niedergeschlagen, wirkten oft auch mürrisch und verbittert und hatten kaum Kontakt zu anderen Mitpatienten. Durch ihre Therapiegruppe wurden die drei "Dicken" aufgefordert, sich ihren Schamängsten zu stellen und nicht weiter zu versuchen, sich nur ja nicht lächerlich zu machen. Die drei heckten gemeinsam folgendes aus: Sie zwängten sich in enge Ballettkostüme und führten ein satirisches Ballett zu der Musik "Schwanensee" auf. Sie gaben sich selbst in der Vorankündigung den humorvollen Namen: "Das Tonnenballett".
Sie ernteten frenetischen Beifall, der sie ermutigte, dies noch öfters aufzuführen. Da sie aus der gleichen Gegend stammten, führten sie auch öffentliche Auftritte nach Entlassung aus der Klinik durch. Ebenso mit großem Erfolg. So lernten sie viele neue Menschen kennen, lernten zu sich zu stehen, und ihr Selbstwertgefühl verbesserte sich massiv. Das Ganze hatte nur einen Haken: Das Tonnenballett existiert nicht mehr. Sie konnten ihr Gewicht nicht halten.
Schreiben Sie uns Ihre Meinung!
Wer verbirgt sich hinter der Maske? Viele Menschen haben Angst, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Sie fragen: Bin ich gut genug für die anderen? Statt zu fragen: Sind die anderen gut genug für mich?