Liebe Leserin, lieber Leser,
zugegeben: Vor der Fußball-WM stand ich der Qualität der deutschen Nationalelf skeptisch gegenüber. Damit habe ich mir keine Freunde gemacht. Die ersten Zweifel überkamen mich, als es hieß, man setze „auf Erfahrung“. Erinnerungen an die völlig verkorkste WM von 1978 wurden wach, die mit der Schmach von Cordoba endete: „3:2 für Österreich, I werd narrisch…“.
Beim ersten Spiel, Deutschland gegen Mexiko, wurden Millionen Zuschauer Zeugen, wie der Gegner ein übers andere Mal über die linke Seite angriff. Jeder hat’s gesehen – nur der Deutsche Trainerstab offenbar nicht. Ende bekannt.
Der Angriff von unerwarteter Seite – ein Phänomen, das wir nicht nur aus dem Fußball kennen. Seit Jahr und Tag scheinen die Anhänger der ganzheitlichen Medizin, im Besonderen der Naturheilverfahren, ihre „Hauptgegner“ zu kennen. Diese finden sich, so die landläufige Meinung, zuhauf in der „Pharmaindustrie“, der „Politik“, „der Ärzteschaft“ bzw. im „medizinisch-industriellen Komplex“, wie es einst der Soziologe Iring Fetscher formulierte. Meines Erachtens trifft das nur teilweise zu. An eine kritische Äußerung über die Naturheilkunde aus dem Bereich der Pharmaindustrie kann ich mich persönlich nicht erinnern. Diese Sparte existiert für die „big player“ nämlich quasi nicht, oder gilt höchstens als unbedeutende Petitesse und somit als uninteressant. In der Politik ist nicht etwa die Haltung der jeweiligen Partei zum Thema entscheidend, sondern die des einzelnen Politikers: Wer hat welche persönliche Erfahrung mit Naturheilkunde gemacht. Befürworter gibt es demzufolge in allen Parteien, ebenso Gegner. Den meisten dürfte diese Endlos-Diskussion wohl aber ziemlich gleichgültig sein.
Doch wer hätte gedacht – und da sind wir wieder bei der bevorzugten Angriffsseite der Mexikaner –, dass Angriffe auf naturheilkundliche Methoden, in diesem Fall auf die Homöopathie, von Medizinethikern kommen? Seit Jahren bestehen Ethikkommissionen, die sich zu verschiedenen Fragestellungen im Gesundheitswesen äußern. Sie sollen, verkürzt ausgedrückt, dazu beitragen, dass die Medizin die Menschenwürde in angemessener Weise berücksichtigt. So dürfen beispielsweise bestimmte Studien, etwa bei der Zulassung von Krebsmedikamenten, aus ethischen Gründen nicht als „randomisierte Doppelblindstudien“ durchgeführt werden, weil dann nach Zufallsprinzip ausgewählte Studienteilnehmer statt des Wirkstoffes ein Plazebo erhielten und somit nicht wirklich therapiert würden.
Auf dem letzten Deutschen Ärztetag in Erfurt wurde ausufernd diskutiert, ob die ärztliche Zusatzbezeichnung „Homöopathie“ erhalten bleiben soll. Man rang sich schließlich dazu durch. Daran übte eine Medizinethikprofessorin massive Kritik mit dem Argument: Es sei ethisch unvertretbar, ein Verfahren, das sich wiederholt als medizinisch unwirksam erwiesen habe, auch noch mit einer Zusatzbezeichnung zu versehen. Vielmehr handele es sich bei der Homöopathie um eine „Form der Esoterik“, die nichts mit Wissenschaftlichkeit zu tun habe.
Mit dem gleichen Argument – einem angeblich fehlenden Wirksamkeitsnachweis – könnte man versuchen, auch etlichen anderen Naturheilverfahren den Garaus zu machen. Den Ethikern möchte man zurufen: Medizin setzt sich immer aus zwei Komponenten zusammen – wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischer Erfahrung am individuellen Patienten. Wer praktisch gearbeitet hat, weiß das – der Medizintheoretiker (und offenbar auch mancher Ethiker) nicht.
Dr. med. Rainer Matejka