Angst trennt, Liebe verbindet
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Bewusstsein

Angst trennt, Liebe verbindet

Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer

Im Rahmen der stationären psychosomatischen Behandlung ist es der ultimative Selbstliebe-Test: 24 Stunden äußerer Rückzug und soziale Isolation inklusive „digital Detox“, also Verzicht auf technische Geräte und Medien. Dies emotional oft schmerzliche, aber ungemein befreiende Experiment hilft, Nähe zu sich selbst, den eigenen Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten zu finden.

Wenn der außen- und ablenkungsorientierte Mensch alleine auf dem Zimmer hockt und nur in die Natur schaut, begegnet er sich zwangsläufig selbst. Es melden sich vermiedene Gefühle, vor denen nicht wenige psychosomatisch erkrankte Menschen auf der Flucht sind. Nach innen schauen, Raum geben und alles mitfühlend liebevoll annehmen, was sich seelisch zeigt – das ist die Herausforderung. Alles, was hochkommt, will gesehen, gewürdigt und umarmt werden.

Erst was wir wirklich fühlend in uns angenommen haben, was wir nicht mehr wegdrücken oder bekämpfen, versklavt uns nicht mehr. So werden wir frei für eine bewusste Stellungnahme, wie wir damit umgehen wollen. Wenn wir achtsam wie ein liebevoller Beobachter und Zeuge allen inneren Facetten unseres Selbsts, allen Persönlichkeitsanteilen erlauben da zu sein, werden wir ganz, und diese zersplitterten Anteile bestimmen uns nicht mehr unbewusst. So entsteht Integration und innere Einheit, unser Selbstgefühl wird weiter. Die Seele weitet sich und gewinnt Raum, in dem Schönes und Schmerzliches gleichermaßen Platz finden. Wer sich selbst kennengelernt und angenommen hat, der ist frei, anderen wirklich zu begegnen. Der freut sich wieder ganz neu auf Nähe zu anderen Menschen, die er dann meist mit anderen Augen sehen und sie selbst sein lassen kann, ohne sie nach eigenen Bedürfnissen zwanghaft beurteilen und verändern zu müssen.

In den langen Monaten sozialer Distanz ist uns schmerzlich bewusst geworden, wie verletzbar wir Menschen doch sind, wie wir einander brauchen und welch essenzielles Bedürfnis der Wunsch nach zwischenmenschlicher seelischer Nähe und resonantem Austausch im direkten persönlichen Kontakt ist. Wir brauchen das emotionale Schwingen im Körperkontakt miteinander wie Fische das Wasser. Um schmerzlich vermisste Nähe nun wieder neu erleben und konstruktive Bindungen aufbauen zu können, ist der Blick auf das, was uns miteinander eint, notwendig.

Aus der Bewusstseinspsychologie wissen wir: Wahrnehmung ist Projektion. Wir sehen im Außen, was in uns ist und was wir an uns selbst ablehnen. Wir nehmen bei anderen wahr, was uns unbewusst im eigenen Inneren bestimmt und umtreibt. So geben wir allem unsere individuelle Wahrnehmungsperspektive und Bedeutung. In unseren äußeren Gegnern begegnet uns in Wahrheit ein innerer Feind, ein Aspekt des eigenen Wesens, mit dem wir in unserer Seele noch nicht versöhnt sind und den wir bekämpfen. So sind andere Menschen Seelen-Spiegel für das, was wir in uns selbst noch nicht angenommen haben.

Wir dürfen uns kritisch fragen: Will ich Einheit und Verbundenheit sehen oder Spaltung und Trennung? Übe ich einen tieferen verständnisvollen Blick auf die innere Güte anderer Menschen, anstelle auf deren selbstbeurteilte Fehler zu starren? Wer sich selbst angenommen hat und sich vergeben hat, kann andere auch annehmen. Und wer übt, anderen zu vergeben, der kann umgekehrt auch sich selbst besser annehmen und selbst Vergebung erfahren.

Angst trennt, Liebe verbindet. Sie können Ihren empfundenen Selbstwert erhöhen, indem Sie nach dem Ausschau halten, was schön, liebenswert und einzigartig ist in jeder Person, die Ihnen heute begegnet. Um anderen wirklich etwas Wertvolles zu geben, spüren Sie das Beste in ihnen auf.

Autor
Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Coach, Lehr- und Paartherapeut, Supervisor, Vortragsredner und Autor Scheidegg/Allgäu. Unter www.anima-mea.org erscheint seine psychosomatische Hörbuchreihe.