Wenn der Frühling naht, und die milde Luft sacht um unsere Nase streicht, fühlen wir den Drang, die Fenster aufzureißen und gut durchzulüften; so als wollten wir das junge, frische Leben, das da draußen gedeiht und blüht, einladen auch zu uns zu kommen, um uns zu verjüngen oder zu erfrischen.
Der Hausputz im Frühjahr geht manchmal mit dem Wunsch einher, auch innerlich zu entschlacken und den Körper ebenso einem Frühjahrsputz zu unterziehen. Nur der Geist, der Kopf, bleibt dabei meistens ausgespart. Dass „der Fisch vom Kopf her stinkt“, ist wohlbekannt. Dass vom Kopf her auch das Gegenteil erfolgt – Erfrischung und Verjüngung – wird hingegen nicht so oft beachtet. Dabei wissen wir doch eigentlich, dass nichts uns so begeistert und mit Energie versieht, wie eine neue Perspektive oder eine zündende Idee, die uns aus dem Trott des Immer-weiter-wie-gehabt herausreißt.
Aber irgendeine Stimme in uns scheint zu raunen: „Du willst dich erneuern? Fang mit deinem Leib an.“ Es ist die Stimme unseres Egos, das zwar die Verjüngung liebt, es jedoch hasst, sich selbst zu verändern. Es bleibt bei seinen Meinungen und seinem Selbstbild. Dass sein Sein sich wandeln könnte, ist ihm nicht geheuer. Also reißt es rasch die Fenster seines Hauses auf und entschlackt den Darm – letztlich, um sich davon abzuhalten, geistig aufzumachen. Das ist schade; denn es führt dazu, dass wir im Außen hängenbleiben, statt uns von innen heraus zu sanieren. Wir entledigen uns zwar der Gifte in Magen und Darm, nicht aber der Toxine, die das Denken lähmen: überholte Positionen, verwelkte Glaubenssätze, morsche Denkgebäude. Nichts steht der Entfaltung unserer Seele mehr im Wege als der Unrat unseres Denkens. „Bring den Müll raus“, heißt deshalb die erste Übung, die in Dan Millmans Roman „Peaceful Warrior“ der alte Weise namens Sokrates seinem jungen Schüler aufträgt.
Letztlich ging es auch dem echten Sokrates, der vor 2500 Jahren in Athen lebte, um nichts anderes. Die Gespräche, die er mit seinen Mitbürgern führte, dienten dazu, den Gedankenmüll seiner Gesprächspartner erst zu entlarven und dann zu entsorgen. „Sag mir doch, was ist Besonnenheit“, fragte er den jungen Freund mit Namen Charmides, der mit einem Schwall angelesener Weisheiten und gängiger Klischees antwortet. Nicht viel anders geht es heute, wenn man einen Zeitgenossen fragt, was er denn unter Liebe oder Glück versteht: Meist bekommt man gängige Zitate aus Frauenzeitschriften und Webforen aufgetischt – oder eine Kostprobe davon, was Küchenpsychologen heute an Discount-Weisheiten abzusondern pflegen. Und man ahnt, dass der Kopf des Gegenübers mit so viel Krempel vollgestopft ist, dass es dem Besitzer gar nicht mehr gelingt, die Fenster seines Geistes aufzumachen. Und dann fängt es vom Kopf her an zu stinken.
Wer etwas dagegen unternehmen will, braucht dafür keine Methode, kein Coaching und keine Schulung. Eigentlich braucht man nur eines: die Bereitschaft zuzuhören. Sie ist nicht nur aller Weisheit Anfang, sondern auch die Quelle geistiger Verjüngung. Sie fordert aber immer auch den Mut, sich von anderen etwas sagen, vielleicht sogar sich belehren oder wenigstens berühren zu lassen – eine Bereitschaft, die in unserer modernen Welt jedoch rar geworden ist. So leben heute viele Menschen in ihrem eigenen Universum, das sie kraft ihres Willens und ihrer Gedanken beherrschen. Doch sie leben nicht wirklich. Sie wachsen und gedeihen nicht mehr – ans Erblühen gar nicht zu denken. „Leben“, so notierte einmal der Religionsphilosoph Martin Buber (1878 – 1965), „heißt angeredet werden“, und „alles wirkliche Leben“ sei „Begegnung“. Damit ist Entscheidendes gesagt: Die Bereitschaft, sich ansprechen oder anrühren zu lassen, bringt Frisches und Belebendes in unser Leben. Sich hinter den liebgewonnenen, doch starren Denkgewohnheiten des Egos zu verschanzen, mag bequem sein – doch es tötet mittelfristig unseren Geist.
Deshalb ist es immer wieder an der Zeit, seinen Geist mit frischer Nahrung zu versehen: sich den provokanten Fragen anderer auszusetzen, seine Überzeugungen in Frage stellen zu lassen – auch auf die Gefahr hin, umdenken zu müssen; sich mit anderen Welten zu befassen, ungewohnte Perspektiven zu erproben, die Welt mal mit anderen Augen anzusehen – um den Horizont zu erweitern. Solches ist es, was uns belebt, womöglich gar begeistert. Es geht nur darum, die Fenster aufzumachen und zuzulassen, dass der gute Geist des Lebens in uns fährt. „Atme Morgenlüfte“, schrieb einst Friedrich Hölderlin, „bis dass du offen bist.“ Damit ist alles gesagt.