Liebe Leserin, lieber Leser,
„Digitalisierung“ scheint eine Art neue Weltreligion zu sein. Jeder spricht davon, auch die, die sie nur vom Hörensagen kennen. Sie ermögliche ungeahnte Chancen für die Entwicklung und den Wohlstand der Menschheit. Allein die Erfolgsgeschichte von Unternehmen wie Google, Amazon und Ebay zeige, welche Möglichkeiten darin steckten. Nun gebe ich zu, dass mir beim Nennen dieser Firmen nicht gerade das Herz aufgeht. Ich bin da eher ein Anhänger solider Maschinenbauunternehmen.
Kurz vor der Fußball WM 2010 wurden die Fernsehsignale vom bisherigen Analogfunk auf „digital“ umgestellt. Mit einer interessanten Nebenwirkung: Wer die WM digital sah, jubelte später, denn das Digitalsignal brauchte wegen anderer technischer Verarbeitung zwei bis drei Sekunden länger, bis es den Empfänger erreicht, als das Analogsignal. Für mich ein symbolhaftes Beispiel, dass die Absolutsetzung moderner Elektronik auch zur Verumstandskrämerung und Verlangsamung führen kann.
Ein weiteres Beispiel: Vor einiger Zeit fielen zwei neue digitale Stellwerke der Deutschen Bahn aus, zunächst in Dortmund und einige Wochen später in Mülheim/Ruhr. Das Resultat: tagelange Zugausfälle und Verspätungen mit Auswirkungen auf das gesamte Bundesgebiet. Man könnte ausrufen: „Das habt ihr nun von dem allgegenwärtigen Vernetzungswahn.“ Mit alten mechanischen Stellwerken wäre das jedenfalls nicht passiert.
Doch das ficht die Digitalfans nicht an. Einer versprach kürzlich, man werde zukünftig seine Krankenversicherung vom Skilift aus abschließen können. Wie absurd! Angesichts der Kompliziertheit bereits einer banalen Haftpflichtversicherung, wird man sicherlich ein derart komplexes Konstrukt wie eine Krankenversicherung mit ihrem hohen Beratungsbedarf nicht aus dem Sessellift abschließen.
Vieles, was man über die Digitalisierung liest, klingt eher bedrohlich. „Manche Forscher gehen soweit, dass sich das Gehirn verändert, wenn es nur lang genug mit digitalen Informationen beschossen wird.“ So stand es schon vor Jahren in einem Nachrichtenmagazin. Ich glaube es sofort.
Aus der Politik hieß es kürzlich, Digitalisierung werde bedeuten, dass es keinerlei Routine mehr gäbe, sondern ständiges Neulernen erforderlich sei. Als ob Routine immer nur schlecht wäre! Ich fürchte, das zum Teil regelrecht bejubelte ständige Neulernenmüssen bedeutet vor allem Dauerstress und eine weitere sprunghafte Zunahme von Bluthochdruck, Rückenschmerzen und Depressionen, also genau der Krankheiten, unter denen große Teile der Menschheit schon heute leiden.
Ich sehe Fortschritte durch Digitalisierung nur dann, wenn ein doppelter Boden eingezogen wird, eine Art mechanische oder analoge Unterlegung, so dass man im Notfall jederzeit auf „Handbetrieb“ umstellen kann. Wie bei der Naturheilkunde: die ist klassisch analog und daher unanfällig für streikende Elektronik. (Was leider auf so manche ganz moderne biologische Apparatemedizin auch nicht mehr zutrifft.)
Es gibt mittlerweile viele Verbraucher, denen es offenbar ähnlich geht: Sie suchen mehr und mehr wieder Produkte und Dienstleistungen in klassischer Form. Es muss ja nicht unbedingt die Schallplatte sein. Manche Trendforscher glauben jedenfalls zu erkennen: „Analog ist das neue Bio“. In diesem Sinne, alles Gute für 2016, wünscht Ihnen herzlich
Ihr Dr. med. Rainer Matejka