Lebewesen, die sich nicht vom Fleck bewegen, haben kein Gehirn. Wir brauchen das Organ, um uns fortbewegen zu können. Und es gilt auch andersherum: Wer sein Gehirn erhalten möchte, sollte häufig gehen. Schon die Philosophen der Antike wussten, das Gehen das Denken unterstützt.
Prof. Dr. Daniel Wolpert (*1963), Neurowissenschaftler an der Columbia Universität New York, sagt, dass wir ein Gehirn brauchen, um uns bewegen zu können. Stationäre Lebewesen wie Bäume brauchen daher keines. Sein schönstes Beispiel für die Untermauerung seiner These sind die Seescheiden (Ascidiae), sesshafte Manteltiere, die weltweit die Meere bevölkern. Diese Tiere bewegen sich nur im Larvenstadium, um einen geeigneten Platz zu finden, auf dem sie sich für den Rest des Lebens niederlassen können. Und dann verdauen sie als erstes ihr eigenes Gehirn und Nervensystem. Sobald man sich nicht mehr bewegen muss, wird das Gehirn zu einem überflüssigen Luxus.
Das Bewegen, das Gehen, das Wandern sind nicht zuletzt deswegen auch immer schon beliebte Themen der Philosophie gewesen. Eine Sonderausgabe des „Philosophie Magazin“ beschäftigte sich mit dem Wandern aus der Perspektive zeitgenössischer und historischer Denker. Der französische Philosoph und Kommunikationstheoretiker Michel Serres (*1930) stellt den Zusammenhang rein physiologisch her: Das rhythmische Gehen zwingt den Atem, sich zu regulieren, und das wiederum ermöglicht uns ein Rhythmusgefühl als Vorläufer des Sprechens und damit des Denkens und Schreibens. Neurophysiologisch wird das von Prof. Dr. Gerd Kempermann (*1965), Hirnforscher an der TU Dresden, mit der Tatsache unterfüttert, dass der Hippocampus (der Teil des Gehirns, in dem die Übernahme von Informationen ins Langzeitgedächtnis stattfindet) durch den Rhythmus, in den wir durch das Gehen mit mittlerer Geschwindigkeit kommen, günstig beeinflusst wird. In diesem Takt schwingt unser Gehirn, wenn wir denken und lernen. Nun wundert es sicher niemanden mehr, wenn Philosophen beim Denken immer hin und her schreiten oder Dichter so versessen aufs Wandern sind.
Der französische Philosoph Alexis Lavis (*1979) sieht im Gehen den Vorteil, dass es einen Zustand der inneren Sammlung ermöglicht, in dem der Geist nicht mehr zerstreut und gleichzeitig offen und ohne Erwartungen ist. Und der Autor des Wanderbuchs „Der Weg des geringsten Widerstands“, Florian Werner (*1971), sieht beim Wandern und besonders beim Pilgern einen Selbstverlust einsetzen. „Beruf, sozialer Stand, Titel und Nachname spielen auf dem Pilgerweg keine Rolle. Es geht beim Wandern also nicht darum, sein ‚wahres Selbst‘ zu finden, eine wie auch immer geartete Identität wiederzuerlangen. Es geht vielmehr darum, diese hinter sich zu lassen, ja, der Vorstellung, es gäbe so etwas wie ein authentisches Ich, zu entfliehen.“
Das widerspricht vielleicht so mancher Erwartungshaltung, von modernen Pilgern, die auf dem Pfad nach Santiago de Compostela sich selbst suchen. Aber wer sich selbst verliert, hat damit viel mehr gewonnen, als wenn er sich in eine vermeintlich stabile Identität verirrt.
Der französische Philosoph Pascal Bruckner (*1948) hebt die eigenartige Paradoxie hervor, dass Bewegung in der Moderne eigentlich Stillstand bedeutet, ein rasender Stillstand, über den auch der Franzose Paul Virilio (1932 – 2018) geforscht hat. Dieser sieht Geschwindigkeit als verborgene Seite von Reichtum und Macht und damit als entscheidenden gesellschaftsbestimmenden Faktor. Seines Erachtens vernichtet die Geschwindigkeit den Raum und verdichtet die Zeit. Dies sei das verhängnisvollste Phänomen des 20. Jahrhunderts. Hektik und Stagnation verschmelzen so, und wir, als vor dem Computer Sitzende oder in rasenden Maschinen Angeschnallte, müssen uns abstrampeln, um wenigstens am Fleck zu bleiben und nicht hinten von der Tretmühle herunterzufallen. Mit dem Gehen und Wandern entkommen wir diesem Irrsinn wenigstens vorübergehend. Und auch das ist schon ein großer Schritt, denn es zeigt, dass wir als Individuen keineswegs verurteilt sind, uns dem rasenden Stillstand hinzugeben. Wir können auch einfach davongehen: Das Gehen als Protest gegen den Hausarrest, wie Bruckner sagt.
Auch die Schriftstellerin und Philosophin Thea Dorn (*1970) meint, das Bedürfnis nach Entschleunigung sei zumindest in Deutschland, dem Land der Wanderlust, nicht neu. Bereits der Romantiker Joseph von Eichendorff stieg aus der Eisenbahn wieder aus und ging zu Fuß weiter, weil ihm die Landschaft zu schnell an den Fenstern vorbeiflog. Darin spiegele sich die hartnäckige Sorge der Deutschen, den Kontakt zur Natur zu verlieren.
Wie dem auch sei, Gehen und Wandern tun immer gut. Gehend öffnet man sich für Erfahrungen und schwingt sich ein in Kontemplation, das ist also allemal besser verbrachte Zeit, als sich von Social Media und TV den Geist pürieren zu lassen und sich dabei auf der Couch dem finalen Bandscheibenvorfall stillsitzend anzunähern. In diesem Sinne: Steht auf und geht hinaus!