Liebe Leserin, lieber Leser,
sagt Ihnen der Name Ernst Maria Johann Karl Freiherr von Feuchtersleben etwas? Mir bis zum 3.11.2019 nicht. Auf einem Kongress erfuhr ich erstmals von ihm – geboren 1806 und gestorben 1849 in Wien. Freiherr von Feuchtersleben, dessen Vorfahren aus einer thüringischen Adelsfamilie stammten, wirkte nicht nur als Mediziner, sondern auch als Essayist. Er soll den Begriff „Psychose“ geprägt haben und einer der Mitbegründer der psychosomatischen Medizin sein.
Sein bekanntestes Werk, welches bereits Ende der 1870er Jahre in der 45. Auflage erschien, trägt den Titel „Zur Diätetik der Seele“. Ein Herr von Schmidt von einem Danziger Verlag schreibt im Jahr 1879 dazu: Als „Popular-Philosoph“ leiste von Feuchtersleben offenbar „das Größte“. In dem besagten Buch habe er Dinge behandelt, „die vor ihm noch niemand behandelt hatte“. Demnach beruht „die Gesundheit des Leibes einzig und allein auf der Kraft, Ruhe, Festigkeit und Klarheit der Seele“. Eine Seele, „welcher diese Kraft abhanden gekommen ist“, könne „dieselbe nur durch anstrengende Thätigkeit und eisenfesten Willen“ wieder erlangen. Das Buch spende allen reichen Trost, „die durch schmerzliche Leiden und bittre Lebenserfahrung die Gesundheit der Seele verloren hätten“…
Warum ich das schreibe? Im 19. Jahrhundert sollen jahrzehntelang alle jungen Ärzte nach erfolgreichem Examen dieses Buch ausgehändigt bekommen haben – auch zur praktischen Selbsthilfe. Ich selbst habe zu meinem Staatsexamen überhaupt nichts überreicht bekommen: Per Einschreiben wurde die Approbationsurkunde zugesandt. Ich habe wenigstens eine mit erhabenem Siegel vom Innenministerium eines deutschen Bundeslandes erhalten, unterschrieben von einem Ministerialrat. Kollegen anderer Bundesländer bekamen lediglich ein hektographiert wirkendes DIN-A4-Blatt des zuständigen Landesprüfungsamtes mit einer Filzstiftunterschrift einer nicht näher gekennzeichneten Person – und, wie ein Kollege ätzte, das Ganze mit perforierter „Klorollenabrisskante“. So stillos ging es in den 1980er Jahren zu.
Ein modernes „Update“ zur Diätetik der Seele wäre in Zeiten, in denen sich immer mehr Menschen nach einem „Reset“ sehnen, hilfreich und wünschenswert – auch für angehende Ärzte, bevor diese mit „Richtgrößen“, „Fallpauschalen“, QM/QS, übertriebenem Datenschutz- und Dokumentationswahn, Regressdrohungen, und diversen weiteren von Gesundheitstheoretikern und Ökonomen ausgedachten Quälereien zugeschüttet und demotiviert werden. Dass kaum noch junge Ärzte „aufs Land“ gehen und selbst Akutkliniken immer größere Probleme haben, ärztliches Personal zu rekrutieren, hängt auch damit zusammen, dass diesen von vornherein durch komplexe Strukturen und enge Zeittaktungen jede Chance auf „Diätetik der Seele“ genommen wird, obwohl dies für den Umgang mit Patienten so wichtig wäre.
Dass ich persönlich schon einmal Freiherr von Feuchtersleben sehr nahe war, habe ich ebenfalls erst jetzt erfahren: Im 10. Wiener Bezirk gibt es eine Feuchterslebengasse. Nur einen Steinwurf davon entfernt habe ich als angehender Arzt eine Famulatur in einer Stadtpraxis absolviert. Seitdem ist mir Wien unvergesslich geblieben.