Liebe Leserin, lieber Leser,
in den 1990er-Jahren war das Thema Kostendämpfung im Gesundheitswesen allgegenwärtig. Heute, rund 20 Jahre später, wird kaum noch darüber gesprochen. Und dies, obwohl die Krankenversicherungsbeiträge in den letzten Jahren weiter gestiegen sind. Einige gesetzliche Krankenkassen erheben mittlerweile Beiträge von über 16 % des Bruttolohns, oft ergänzt durch Zusatzbeiträge.
Nach wie vor hören wir als Erklärung die übliche deutsche Leier: „Zunehmendes Alter und medizinischer Fortschritt begründen steigende Beiträge.“ Zählt man sämtliche Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen zusammen (Arzt- und Krankenhauskosten, Krankengeld, Medikamente und Verwaltung) bleibt immer noch ein erheblicher zweistelliger Milliardenbetrag übrig – von dem man nicht weiß, wofür er eigentlich ausgegeben wird. „Experten“ antworten auf das „Wofür?“ mit Achselzucken.
Mir fallen zwei mögliche Gründe für das Versickern von Milliarden ein. Vor einiger Zeit erkundigte ich mich bei Krankenkassenvertretern, welcher finanzielle Verwaltungsaufwand entstehe, wenn gesetzliche Krankenkassen sich gegenseitig Mitglieder abwerben. Zu meinem Erstaunen erhielt ich wie aus der Pistole geschossen eine Antwort: Die Verwaltungskosten der Kasse für ein verlorenes Mitglied betragen ca. 650 €. Man darf annehmen, dass für die aufnehmende Kasse ein ähnlicher Betrag hinzukommt. Angesichts von Millionen Kassenwechslern pro Jahr errechnet sich bereits so ein Verwaltungsaufwand im zweistelligen Milliardenbereich.
Und dann wäre da noch RSA. Schon mal gehört? Diese Abkürzung steht für „Risikostrukturausgleich“. Bedeutet: Krankenkassen mit jüngeren und gesünderen Mitgliedern sollen Geld an die Kassen abführen, die vermehrt ältere und schwerkranke Menschen versichern (müssen). Auf den ersten Blick nichts Unrechtes. Auf den zweiten aber treibt die Regelung kuriose Blüten: Gesetzliche Krankenkassen verfolgen immer häufiger das Ziel, ihre Versicherten mit möglichst gravierenden Diagnosen chronischer Krankheiten versehen zu lassen. Dadurch erscheinen diese kränker, als sie in Wirklichkeit sind. Ärzte, die sich hier kooperativ zeigten und entsprechende Diagnosen bestätigten, wurden sogar mit Prämien entlohnt … Der Gesetzgeber wollte dieses Treiben unterbinden. Das spornte die Kassen zu kreativen Höchstleistungen an: Zwischen einzelnen Krankenkassen und Ärzteverbänden wurden nun Sonderverträge geschlossen – mit satten Zusatzhonoraren für Mediziner, die ihre Patienten vermehrt als chronisch krank einstufen. Wirksam überwacht oder gar geahndet wird diese Vorgehensweise bislang nicht.
Krankenkassen haben in den letzten Jahren Milliardenüberschüsse aufgebaut. Das Argument, man wolle Reserven für schwierige Zeiten sichern, ist bei einem System, das jederzeit durch Beitragserhöhungen erforderliche Geldmengen eintreiben könnte, ungültig. Die Kassen überlegen jetzt, Überschüsse gewinnbringend anzulegen: und zwar in Zeiten von Nullzins in Aktien, selbstverständlich nur in deutsche Wertpapiere. Nicht über den Tellerrand schauen – daran hält man sich offenbar konsequent. Aber Spaß beiseite. Gesetzliche Krankenkassen haben das Geld ihrer Mitglieder nicht am Kapitalmarkt anzulegen, sondern es in sinnvolle Gesundheitsleistungen zu investieren oder an die Versicherten zurückzugeben. Doch niemanden scheint dies so recht zu interessieren. Und so wird weiterhin allein durch die Strukturen des deutschen Gesundheitswesens Volksvermögen in gewaltigem Umfang vernichtet. Ganz unabhängig von erbrachten medizinischen Leistungen.
Nachdenklich grüßt
Ihr Dr. med. Rainer Matejka