Liebe Leserin, lieber Leser,
von uns sind Sie deutliche Worte und das Bemühen um zuverlässige Ratschläge gewohnt. Das soll auch so bleiben. Der Naturarzt stellt bewährte Naturheilverfahren, aber auch neue Erkenntnisse vor. In vielen Bereichen gibt es aber keine eindeutigen Wahrheiten, wovon auch die vorliegende Ausgabe Zeugnis ablegt: Wieviel Vitamine und Mineralstoffe der Mensch braucht, hierüber existieren widersprüchliche Auffassungen. Eine absolute Wahrheit kann es in dieser Frage kaum geben, sondern nur ein Spektrum unterschiedlicher Meinungen.
Die eine Extremposition behauptet, eine ausgewogene Ernährung reiche vollkommen aus, um eine adäquate Bedarfsdeckung zu erreichen. Jede zusätzliche Einnahme von Vitaminen und Mineralstoffen sei unsinnig und reine Geschäftemacherei. Die andere Extremposition sieht nur extrem hohe Dosierungen als „sicher“ an. So empfiehlt ein Autor beispielsweise die 1500fache (!) Menge Pantothensäure im Vergleich zur „offiziellen“ Empfehlung. Das Vitamin wird in der „Orthomolekularen Medizin“ unter anderem bei Blutarmut, chronischen Entzündungen und Müdigkeit empfohlen. Wollte man manchem Rat zur Hochdosistherapie folgen, müßte man die entsprechenden Substanzen quasi säckeweise im Keller bevorraten.
In dieser Ausgabe stellen wir Ihnen vor, wie die Orthomolekulare Medizin entstand und wie sie funktioniert – aber auch eine entschiedene Gegenposition, die die zugrundeliegenden Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr in Zweifel zieht. Sehr wahrscheinlich spielt sich die Realität irgendwo in der Mitte ab: Die ständige routinemäßige Dauerzufuhr von Vitaminen und Mineralstoffpräparaten für jedermann ist sicherlich nicht notwendig. Gegen die kurmäßige Einnahme ausgewählter Substanzen ist aber nichts einzuwenden. Bei bestimmten Erkrankungen kann sie sogar sinnvoll sein. Eine Untersuchung zeigt beispielsweise, daß die zusätzliche Zufuhr von 200 IE Vitamin E, 200 mg Vitamin C, 350 mg Magnesium und 100 µg Selen pro Tag einen Nutzen bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen bietet.
Ist man sich schon über die Frage der Dosierungen oft uneinig, entbrennt weiterer Streit über die Darreichungsform. Natürliche Vitamine sollen besser helfen als synthetische. Daß letztere allerdings auch wirksam sind, zeigt sich an dem Effekt von Vitamininjektionen oder -infusionen. Ähnlich verhält es sich bei der Frage, ob anorganisch oder organisch gebundene Mineralstoffe die bessere Zufuhrquelle darstellen. Manche behaupten, nur organisch gebundene Mineralstoffe sind für den menschlichen Organismus bioverfügbar. Am Beispiel Selen kommt eine neue Studie zum gegenteiligen Ergebnis – in anorganischer Bindung als Natriumselenit soll es wesentlich schneller bioverfügbar sein.
Der Bereich Nahrungsergänzungsmittel ist noch größer als der der Orthomolekularen Medizin. Er reicht von Aloe Vera bis zu Muschelkalk und anderen Mitteln, die Hersteller als „Hilfe zur Selbsthilfe“ anpreisen. Der Naturarzt wird dies weder in Bausch und Bogen verdammen noch unkritisch befürworten. Wie wir in der letzten Ausgabe berichtet haben, sind selbst Hersteller bewährter pflanzlicher Arzneimittel zunehmend gezwungen, in den Nahrungsergänzungsmittelsektor auszuweichen, weil die Behörden eine Zulassung als Arzneimittel de facto unmöglich machen. Allerdings wären bei der Nahrungsergänzung etwas mehr Seriosität und weniger Heilversprechen wünschenswert. „Werden Sie wieder jung und glücklich“, lautet oft die Botschaft, „und zwar sofort“. Ja, wenn es nur so einfach wäre!
Mit besten Grüßen