Gelassenheit: Vom Esel lernen
Grafik: Dr. Christoph Quarch
Bewusstsein

Gelassenheit: Vom Esel lernen

Dr. phil. Christoph Quarch

Der Esel wurde in der Vergangenheit nicht nur häufig unterschätzt, sondern auch gänzlich missverstanden. Vielfach haben Menschen sein zögerliches Verhalten als störrisch oder gar dumm interpretiert. Dabei ist das Tier, wie die Zoologie, genau genommen die Verhaltensforschung nachgewiesen hat, überlegt und besonnen. Tatsächlich vermag es Situationen zu beobachten und mit seinen Erfahrungen abzugleichen. Der Esel bringt viele Qualitäten mit, von denen wir lernen können. Unter anderem ist er ein echter Experte in Sachen Gelassenheit. DreamWorks schuf dem Esel in der beliebten Filmreihe um den Oger Shrek mit der Figur Donkey ein Denkmal.

Geadelt wurde jene Kreatur vom Sprecher, der ihr seine Stimme gab: von Eddie Murphy. Der sagte über Donkey, den komischen Helden aus den Shrek-Filmen, er sei ein „wirklich positiver Charakter. Er sieht immer in allem das Gute und gibt sein Bestes, um es herauszuholen.“ Und dann schließt er mit dem kaum übersetzbaren Kompliment, er sei ein „happy-go-lucky donkey”.

Dabei kann dieser Patron einem gehörig auf die Nerven gehen. Sein Kumpel Shrek und dessen hübsche Braut Fiona müssen sein dauerndes Gebrabbel immer wieder über sich ergehen lassen. Das unterscheidet Donkey zweifellos von allen realen Eseln, die man eher als schweigsame Gefährten kennt, doch sein gelassenes und optimistisches Gemüt lässt ihn zuletzt dann doch als vollwertiges Mitglied der Esels-Sippe glaubhaft erscheinen. Auch dass er mehr oder weniger widerstandslos die zudringliche Liebe eines Feuer speienden Drachens namens Dragon – aus der dann später einige entzückende kleine „Dronkeys“ hervorgehen werden – über sich ergehen lässt, erlaubt es, ihn als fernen Verwandten des demütigen und duldsamen Hausesels durchgehen zu lassen. Bei alledem fehlt ihm jedoch die Unterwürfigkeit, die man dem Esel sonst so gerne andichtet. Auch das depressive und lethargische Wesen des weitläufig mit ihm verwandten Esel Eeyore aus Alan Alexander Milnes Roman Winnie Pooh geht ihm völlig ab. Shreks Esel strotzt vor Tatendrang und nichts kann ihn dabei erschüttern.

So passt es zu seinem Naturell, wenn Donkey sich am Ende des ersten Shrek-Films als Liebender und Gläubiger präsentiert: „Now I’m a believer“, schmettert er ins Mikrofon. „Not a trace of doubt in my mind. I’m in love.“ Ähnliches hätte man vielleicht auch jenen Reittieren von Jesus und Maria abgenommen, mit denen wir es bereits zu tun hatten.

Ein Meisterstück an eseliger Gelassenheit bietet Donkey dann vor allem im zweiten Shrek-Film, in dem ihn ein Zaubertrank unversehens in einen weißen Hengst verwandelt. Nachdem die Transfiguration vollzogen ist, erkennen die Helden des Films, dass auf der Flasche jenes Zauberelixiers geschrieben steht, der Inhalt sei für Wesen mit nervösen Störungen ungeeignet – was dazu führt, dass alle Augen auf den guten Donkey gerichtet sind, der diesen unausgesprochenen Vorwurf allerdings mit äußerster Gelassenheit an sich abprallen lässt.

Man wäre fast versucht zu glauben, bei Donkey handelte es sich um die Reinkarnation jenes berühmten Esels aus dem Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, der angesichts der Risiken eines Lebens auf Wanderschaft die geflügelten Worte fand: „Etwas Besseren als den Tod finden wir überall.“ Wenn das nicht gelassen ist! Doch zurück zum Esel Shreks. Er ist tatsächlich eine wunderliche Mischung aus Aufgeregtheit und Gelassenheit. Wie viele andere Esel ist er ein doppelgesichtiges Wesen, bei dem zuletzt die liebenswerte Eigenschaft obsiegt. Ein Adjektiv passt auf ihn ganz besonders gut, denn daran kann kein Zweifel sein: Donkey is cool.

Gelassenheit ist eine Insel im Meer der Ruhelosigkeit. Wenn du auf ihr lebst, lässt du dich durch Trubel, Chaos, Stress und Hektik nicht so leicht erschüttern. Nein, du lässt die Wogen deiner Welt am Ufer der Gelassenheit verebben. Nicht, dass du dich ihnen entgegenstellen würdest. Nicht, dass du dich als Wellenbrecher hervortätest. Abwehr und Widerstand sind deine Sache nicht. Du lässt dich ein auf alles, was geschieht. Du lässt die Dinge auf dich wirken. Du lässt dir Zeit. Gelassenheit ist eine Kunst des Sich-Einlassens und des Zulassens.

Das ist etwas anderes als Gleichgültigkeit oder Indifferenz. Gelassenheit bedeutet nicht, alles mit einem Achselzucken zur Kenntnis zu nehmen und ansonsten seinen eigenen Stiefel zu machen. Gelassene Menschen lassen sich durchaus von dem angehen, was um sie herum geschieht. Sie lassen sich berühren und in Anspruch nehmen. Sie lassen auch den Kummer und die Sorgen anderer an sich heran – auch den eigenen Kummer und die eigenen Sorgen lassen sie zu. Nur lassen sie sich von alledem nicht hinreißen. Sie lassen sich auf etwas ein und lassen es beizeiten wieder los. Sie können es sein lassen – ja, wenn sie wirklich gelassen sind, können sie es zuweilen sogar gut sein lassen. Aber das alles ist nur möglich, weil sie es zunächst zugelassen haben. Nichts zuzulassen führt nicht zur Gelassenheit, sondern zu Starrsinn.

Gelassenheit scheint paradox zu sein. Das liegt daran, dass es sich bei ihr um eine Beziehungsqualität handelt. Wenn du gelassen bist, verhältst du dich gelassen zu etwas anderem: so, dass du jederzeit ablassen kannst. Ablassen wovon? Vermutlich wärest du versucht zu sagen: ablassen von einem Plan, einem Projekt, einem Menschen. Damit aber liegst du falsch. Die Kunst der Gelassenheit besteht nicht darin, dass du vom anderen ablässt, sondern von dir. Nur wenn du von dir ablässt, kannst du die anderen oder das andere wirklich zulassen, bestehen lassen, gelten lassen, gewähren lassen, gut sein lassen.

Gelassenheit ist nicht deswegen für dich als Führungskraft so wichtig, weil sie es dir leichter macht, andere ihrem Schicksal zu überlassen, sondern weil sie dich freilässt – weil sie dich aus dem Gefängnis deiner Selbstbezüglichkeit befreit. Das kannst du von einem Esel lernen. Das Geheimnis seiner Gelassenheit besteht darin, dass er kein Ego hat. Ebenso das Geheimnis seiner Coolness. Sie macht ihn zum perfekten Partner, Führer und Weggefährten.

Gelassenheit befreit dich nicht nur aus den Fängen deines Egos, sie öffnet zugleich den Raum für Kreativität und Innovation. Schöpferisch ist nicht, wer meint, seine Ideen mit Kraft und Stärke durchsetzen zu müssen. Schöpferisch ist vielmehr, wer sich auf Prozesse und Dynamiken einlässt, die er nicht selbst steuern kann. Gute und kraftvolle Ideen gebierst du nicht aus dir selbst. Sie entstehen in der Interaktion mit anderen. Sie werden an dein Land gespült, wenn du dich für sie offenhältst. Wenn du gelassen dem entgegensiehst, was kommt, werden der beste Einfall und die fruchtbarste Idee sich dir von selbst zuspielen. Auch wenn sie manchmal unerwartet kommen – etwa getarnt als Störung oder Hindernis; vielleicht sogar als aufdringliche Liebe eines Drachens. Auch solches nimmst du dankbar an, wenn du gelassen bist. Denn du weißt, dass das Leben manchmal krumme Wege nimmt, um letztlich doch das Beste zu erreichen; und dass es manchmal nottut loszulassen, um sich auf Neues einlassen zu können.

Gelassenheit verhindert Stagnation und Stillstand. Gelassen können wir dem Fluss des Lebens folgen: uns in ihn hineingleiten lassen, um uns von ihm zum Ziel hintragen zu lassen. Führung setzt Gelassenheit voraus. Sie folgt dem Fluss des Werdens und Vergehens.

Weiterführende Literatur
Quarch, Christoph: Wacher Geist und fester Schritt.
The Donkey School for Leadership, Daun: legendaQ Verlag 2024, mit Illustrationen von Martha Quarch.

Autor
Dr. phil. Christoph Quarch,
Jahrgang 1964, Philosoph, Bestsellerautor, Redner. Von ihm erschien u. a. das Buch „Kann ich? Darf ich? Soll ich?: Philosophische Antworten auf alltägliche Fragen“ (legenda Q 2021).
www.christophquarch.de