Dinge geschehen zu lassen, ist nicht das, was wir in der westlichen Gesellschaft gewohnt sind, denn wir sind Macher und Gestalter unseres Schicksals. Allerdings muss wohl jeder im Laufe seines Lebens die leidvolle, aber auch wertvolle Erfahrung machen, dass wir nicht alles unter Kontrolle haben.
Sind Sie ein „Macher“ oder lieber ein „Geschehen-Lasser“? Wenn ich hier für das Geschehen-Lassen plädiere, dann deswegen, weil in unserer Gesellschaft das „Machen“ dominiert. Wir machen (meist) lieber irgendetwas, als gar nichts zu tun und still abzuwarten. Einige Beispiele für erfolgreiches Geschehen-Lassen möchte ich hier erzählen.
Die Sonne und der Wind stritten sich, wer von ihnen stärker sei. Sie wollten sich an einem Mann mit einem Wintermantel messen. Der Wind sollte zuerst seine Stärke beweisen. Er pustete gegen den Mann an und versuchte, ihm den Mantel auszuziehen. Doch je mehr er wehte, desto stärker hielt der Mann seinen Mantel fest. Der Wind steigerte sich zu einem Sturm. Doch es gelang ihm nicht, den Mann von seinem Mantel zu befreien, denn der Mann hielt den Mantel krampfhaft immer fester. Schließlich musste der Wind seine vergeblichen Anstrengungen aufgeben.
Nun war die Sonne an der Reihe, ihr Glück zu versuchen. Doch sie tat überhaupt nichts, als nur in Ruhe zu scheinen. Der Mann ging zunächst unbehelligt weiter. Doch je länger er im Sonnenschein spazieren ging, desto wärmer wurde ihm. Zunächst öffnete er nur die Knöpfe seines Mantels. Die Sonne schien weiter. Nach einer Weile musste der Mann seinen Mantel ausziehen. Die Sonne hatte gewonnen. Sie hatte sich nicht so angestrengt wie der Wind. Sie tat gelassen nur das, was sie ohnehin am besten konnte.
In der afrikanischen Wüste haben die Buschmänner eine findige Methode entwickelt, Affen zu fangen. Sie suchen sich einen Baum mit einem Loch, in welches gerade eine Affenhand mit Mühe hineinpasst. Dann legen sie ein paar Nüsse in die Höhlung des Baumes und beobachten das Geschehen. Sie entfernen sich von dem Baum so weit, dass sie den Baum gut sehen können, sie für die Affen aber keine direkte Bedrohung darstellen. Langsam nähert sich scheinbar unbeteiligt ein Affe dem Baum. Die Buschmänner tun auch so, als würde sie das Ganze nicht interessieren. Schließlich steckt der Affe seine lang gestreckte Hand in das enge Loch, um in der Höhlung nach den Nüssen zu suchen.
In dem Moment, wenn der Affe die Nüsse mit seiner Hand gepackt hat und gerade versucht, die Hand aus dem Loch zu zwängen, stürzen die Buschmänner herbei. Der Affe bekommt Panik und versucht mit aller Kraft seine zur Faust geballte Hand mit den Nüssen wieder aus dem Loch herauszubekommen. Die Buschmänner kommen näher. Der Affe verkrampft sich immer mehr, bekommt seine Hand aber nicht aus dem Loch, da er die Nüsse nicht loslässt. Er müsste nur die Nüsse fallenlassen, seine Hand entspannen und sie wieder aus dem Loch ziehen. Da er aber in seiner Angst nicht loslassen kann, kommt er nicht frei und wird gefangen.
Was tun Sie, wenn Sie mit Ihrem Auto unterwegs sind und die Reifen auf einer eisglatten Straße durchdrehen? Geben Sie Gas oder nehmen Sie den Fuß vom Gas? Jeder Autofahrer weiß, dass es hier nur eine richtige Antwort gibt. Wenn wir bei durchdrehenden Reifen wieder vorwärts kommen wollen, dann müssen wir nicht mehr, sondern weniger Energie einsetzen – auch wenn es auf den ersten Blick unlogisch erscheint.
Wenn wir den Fuß vom Gas nehmen, dann drehen sich die Räder langsamer und bekommen irgendwann wieder Griff auf dem glatten Untergrund. Wenn wir mehr Gas geben, dann drehen die Reifen umso stärker durch, je mehr Energie wir geben. Was uns beim Autofahren auf glatter Straße so einleuchtend ist, weil wir es aus Erfahrung kennen, können wir im Leben nicht immer umsetzen. Wenn sie nicht vorwärts kommen, so nehmen Sie doch auch einmal im wahren Leben den Fuß vom Gas.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es gibt Situationen, da müssen wir das Maximum an Diagnostik und Therapie einfordern, z. B. in akuten Notfallsituationen, bei belastungsabhängigen Herzbeschwerden oder blutigen Stühlen, weil hier das Maximum meist das Optimum darstellt. Oft ist das Optimale aber eben nicht das Maximum. Dann sind moderat eingesetzte Verfahren der richtige Schlüssel zur Heilung. Und manchmal kann es auch das Richtige sein, nichts zu tun. Dem „ut aliquit fiat“ („damit irgendetwas gemacht werde“) betriebsamer Ärzte und fordernder Patienten ist mitunter ein gelassenes Zuwarten entgegenzusetzen.
Glücklicherweise kommen solche Einstellungen mittlerweile auch (ganz langsam) in der konventionellen Medizin an. Die medizinischen Leitlinien schrieben bisher nur vor, was zu tun, nicht aber, was zu lassen sei. Unter der Maxime „choosing wisely“ (klug entscheiden) gibt es inzwischen „Leitlinien für das kluge Unterlassen“. In einer der nächsten Ausgaben des
„Naturarzt“ werde ich ausführlich berichten.