Liebe Leserin, lieber Leser,
seit geraumer Zeit prognostizieren Wirtschaftsfachleute dem Gesundheitsmarkt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten einen ungeahnten Boom. Danach durchläuft die Wirtschaftsgeschichte verschiedene zyklische Phasen, in denen jeweils eine bestimmte Sparte besonders boomt. War in den 80er und 90er Jahren die Elektrotechnik im Vordergrund, entwickelte sich in den letzten Jahren besonders die Informationstechnologie. Zukünftig soll also der Gesundheitsmarkt den großen Aufschwung erleben.
Gesundheit betrifft ein „immerwährendes Grundbedürfnis“ des Menschen. Das prognostizierte Wachstum soll sich nicht nur auf die medizinische Akutversorgung beziehen, sondern vor allem im Sinne des umfassenden Gesundheitsbegriffes der WHO erfolgen: Gesundheit als vollkommenes körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden. Ob dieser Bereich wirklich der prognostizierte Wachstumsmarkt wird, hängt meines Erachtens von vielen Faktoren ab.
Stellen wir uns zwei Szenarien vor:
1. Die Welt verharrt auf lange Zeit in gesamtwirtschaftlichen Unsicherheiten mit zunehmender Armut, kriegerischen Auseinandersetzungen oder sonstigen, zum Beispiel interkulturellen Konflikten. Dies führt zweifellos dazu, daß auch der Gesundheitsmarkt schrumpft. Die Menschen konzentrieren sich auf das Wesentliche. Schon heute käme in Entwicklungsländern kein Mensch auf die Idee, medizinische Hilfe wegen Befindlichkeitsstörungen in Anspruch zu nehmen, wie dies in westlichen Wohlstandsstaaten üblich ist.
Wenn eine allgemeine wirtschaftliche Talfahrt immer stärker bergab geht, müßten sich die Menschen auch bei uns auf das wirklich dringend Notwendige konzentrieren. Vermutlich würden wir uns dann alle wundern – wie der Klinikbetreiber Werner Wicker es einmal formulierte –, mit wie wenig es im Gesundheitswesen auch geht, ohne daß die Erkrankungsrate steigt oder die Lebenserwartung sinkt.
2. Die Entwicklung ist von Prosperität und kontinuierlichem Wirtschaftswachstum gekennzeichnet. Umweltprobleme bekommt man zunehmend durch Anwendung moderner Technologien in den Griff. Kriege werden eingedämmt, die Gefahr globaler Konflikte weitgehend gebannt. In den Schwellenländern, aber auch in Entwicklungsländern verringert sich die Kluft zwischen arm und reich, und immer breitere Massen werden von einem – vielleicht zunächst bescheidenen Wohlstand – erfaßt. Diese Entwicklung könnte in der Tat dem Gesundheitsmarkt im weitesten Sinne einen ungeahnten Boom bescheren.
Im Moment deutet vieles auf die erste Version hin. Auf der anderen Seite spricht die Geschichte dafür, daß auch dieses nicht von Dauer sein wird, sondern sich letztendlich Phase eins und zwei abwechseln. Und damit wird die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen immer von der Gesamtlage abhängen. Phasenweise mag sie boomen, sie wird aber auch Rückschläge einstecken – wie andere Bereiche der Gesellschaft auch. Eine realistische Sicht erscheint mir daher angemessener als euphorisches Hochjubeln eines angeblichen Megatrends.