Grenzenlosigkeit: Traum oder Alptraum?
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Bewusstsein

Grenzenlosigkeit: Traum oder Alptraum?

Dr. phil. Christoph Quarch

Ein großes Thema unserer Zeit heißt Grenzen. Wir fuhren ohne Grenzkontrollen durch Europa, die innerdeutsche Grenze fiel, die Grenze zwischen West und Ost wurde porös. Zugleich begann der Siegeszug des grenzenlosen Marktes und des Internets. Unendlich viele Daten, die in Echtzeit alle Grenzen überwinden, sowie grenzenlose Freiheit im virtuellen Raum.

Vor 2500 Jahren sah man das Thema Grenze im alten Griechenland mit anderen Augen. Es bestand die feste Überzeugung, dass Grenzenlosigkeit und Grenzen einander bedürfen. Die grenzenlose Energie des Lebens braucht die Form, die ihr die Grenze gibt, erklärte Platon. Und in den Werken seines Schülers Aristoteles stößt man auf einen echten Horror vor dem Unendlichen: Der Kosmos muss einen Anfang haben, das Geldwachstum ein Ende, alles hat ein eigenes Maß, das ihm die Grenze setzt. Sie zu verletzen, führt zu Unheil und Verderben.

Darin steckte eine tiefe Wahrheit: das Wissen um die Grenze, die der Tod setzt. „Bedenke, dass du sterblich bist“, war ein vielzitierter Satz. Man wusste, dass Unsterblichkeit und Grenzenlosigkeit dem Menschen Wert und Würde rauben. Und verurteilte das Aufbegehren gegen diese Grenze als maßlos und vermessen.

Was hätte wohl Sokrates über das, was die Pioniere der IT-Branche uns in Aussicht stellen, gedacht? Über die Überwindung der Grenze von organischer und künstlicher Intelligenz, die Überwindung der Grenze des Todes durch Digitalisierung des Gehirns, die Überwindung aller Grenzen durch den Fortschritt der Robotertechnik? Er hätte uns sicher gewarnt.

Tatsächlich sehen wir inzwischen, wohin es führt, wenn Grenzen fallen. Mit ihnen fallen Tabus und Werte. Im Internet sind quantitativ und qualitativ alle Grenzen überschritten, vor allem ethisch und moralisch. Postfaktizität (Denken und Handeln, bei dem Fakten nicht im Mittelpunkt stehen) ereignet sich aber auch in der analogen Welt: Wo früher Anstandsgrenzen walteten, herrscht heute blanke Barbarei. Die grenzenlose Wirtschaft und ihr Traum vom unbegrenzten Fortschritt schaffen eine globale Umweltkatastrophe. Grenzüberschreitende Flüchtlingsströme bringen grenzenloses Elend mit sich. Kein Wunder, dass der Ruf nach Grenzen wieder laut wird und dass man Präsident der USA werden kann, wenn man den Menschen Grenzen zusichert! Kein Wunder, dass die Briten neue alte Grenzen wollen. Die Schere öffnet sich bedrohlich: Der Grenzenlosigkeit im digitalen Raum entspricht ein neuer Ruf nach analogen Grenzen. Diese bieten jedoch ganz sicher nicht die Art von Begrenztheit, die das Leben braucht.

Was also ist zu tun? Wir brauchen Grenzen, die das Leben schützen. Das heißt vor allem, jene Grenzen anzunehmen, die das Dasein uns setzt: dass wir nicht allein sind, sondern neben uns noch andere leben wollen; dass wir Teil des großen Kosmos sind, dessen Gesetze uns das Leben möglich machen, wie Begrenzung des Wachstums, des Lebens, und der Entfaltung; dass wir zu sterben haben, damit nach uns anderes, neues Leben auf der Erde wandeln kann. Begrenztheit ist der Preis, den wir dafür zu zahlen haben, dass es Vielfalt und damit auch Schönheit gibt. Der Wunsch nach Grenzenlosigkeit ist nichts anderes als ein ins Unendliche aufgeblähter Egoismus.

Zu akzeptieren, dass das Leben Grenzen braucht, ist der erste Schritt zur Rettung. Ideologien, die Grenzenlosigkeit jedweder Art verheißen, sollten Sie abschwören, und Lehren, die Erfüllung in der Grenzenlosigkeit verheißen, meiden. Nicht grenzenloses Einerlei ist, was das Leben zur Entfaltung der Lebendigkeit benötigt, sondern Respekt vor jenen Grenzen, die das bunte, schöne, vielfältige, bezaubernde Konzert des Kosmos überhaupt erst möglich machen.

Die Kunst des Lebens besteht darin, die begrenzten Wesen so ins Verhältnis zu setzen, dass sie sich zu einem schönen Ganzen fügen und miteinander und im Wechselspiel Erfüllung finden. Das ist das Schöne am Projekt Europa: dass es Grenzen anerkennt und dabei doch auf einer höheren Ebene ein Ganzes ist. Oder an einer Partnerschaft: dass sie die Grenzen anerkennt und liebt, die durch einen anderen gezogen werden.
Am Ende ist es eine Aufgabe des Geistes, mit vorhandenen und notwendigen Grenzen richtig umzugehen. Er sollte Grenzen nicht beseitigen, sondern das Begrenzte aneinander binden. Wir brauchen einen grenzenlosen Geist der Liebe und Verbundenheit. Einzig allein hier dient Grenzenlosigkeit dem Leben, und nur ein solcher Geist wird dem Leben zur Entfaltung verhelfen. Andererseits muss der Geist Grenzen setzen, vor allem in der immateriellen, digitalen Welt. Damit rettet er uns vor digitaler, ökonomischer und moralischer Hybris und bewahrt uns vor digitaler und moralischer Maßlosigkeit.

Das Grenzenziehen unseriösen und womöglich totalitären Personen und Strukturen zu überlassen, ist fatal. Lassen Sie uns miteinander dafür sorgen, dass Grenzen wiederkehren, die dem Leben dienen – im Denken und Handeln, in Moral und Politik, in Wirtschaft und im Datennetz. Grenzen, die nicht durch Stacheldraht und Mauern markiert sind; Grenzen, die nicht trennen, sondern verbinden.

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