Ich bestimme mich selbst
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Bewusstsein

Ich bestimme mich selbst

Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer

Auf vielfältige Art sind wir alle an die Macht gebunden, von der wir Anerkennung und Lob erwarten. Schließlich haben wir schon in frühester Kindheit gelernt, den Forderungen jener Menschen nachzugeben, von deren Liebe wir abhängig waren. Das verurteilt uns zur ewigen Suche nach Bestätigung – doch um glücklich zu leben, gilt es, Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse zu übernehmen.

Soziale Systeme funktionieren nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Wir leisten etwas und erzielen damit ein Resultat, wir investieren unsere Arbeitskraft und erhalten einen Lohn, wir tun anderen einen Gefallen und erhalten etwas zurück. Dabei ist die Gegenleistung nicht unbedingt materieller Natur. Anerkennung, Würdigung, Wertschätzung, Status, Lob und Dankbarkeit sind mindestens ebenso erwünscht und das angestrebte Ziel vieler Leistungen, die zum Wohle anderer erbracht werden.

Erzielen unsere Handlungen keine Wirkung oder bleibt die Gegenleistung aus, so erleben wir uns als wenig selbstwirksam. Haben wir viel in eine Sache investiert oder etwas für andere getan und erhalten dafür keinen Ausgleich, empfinden wir das als Zumutung und andere oder auch das Leben als undankbar und ungerecht. Wir erleben ein inneres emotionales Minus. Unser inneres Konto weist einen Fehlbetrag aus. Dabei rechnet eher der Bauch als der Verstand.

Menschen möchten in ihrem Leben die Erfahrung machen, dass das eigene Tun etwas bewirkt und soziale Beachtung findet. Wenn die eigenen Bemühungen zu nichts führen und keine Resultate zeigen, steht der Aufwand in keinem Verhältnis zu dem erzielten Erfolg. Der Depressionsforscher Martin Seligman konnte in seinen Experimenten zur gelernten Hilflosigkeit nachweisen, dass sowohl Tiere als auch Menschen auf die Wirkungslosigkeit ihrer Aktionen mit depressivem Verhalten reagieren.

Die natürliche Reaktion auf so eine Minusbilanz und Schieflage unserer Verdienstkonten ist Ärger, Wut und Aggression. Sind unsere Aggressionen nach außen blockiert, richtet sich die Aggression nach innen. Die Depression flüstert uns ein, von anderen oder vom Leben betrogen, bestohlen und übervorteilt worden zu sein. Doch wer anderen die Schuld gibt, gibt ihnen Macht. Wer die Umstände verantwortlich macht, macht sich selbst hilflos. Jeder Druck, den man empfindet, ist hausgemacht – man macht ihn sich letztlich selbst. Wir sind jedoch unseren Gefühlen und der Willkür anderer nicht hilflos ausgesetzt.

Depressionen und Burn-out sind Zustände, die einen auffordern, sich selbst wieder mehr Raum zu geben, berechtigte Bedürfnisse und Interessen offener zu vertreten, hilflose Opferrollen zu verlassen, die von kindlichen Grundüberzeugungen gespeist sind, und als selbstwirksamer Gestalter des eigenen Lebens die Zügel wieder in die Hand zu nehmen.

Der entscheidende Aspekt einer Veränderung besteht in der konkreten emotionalen Erfahrung, dass man sich tatsächlich anders fühlen kann, wenn man sein Leben anders gestaltet. In der Erfahrung, dass die eigenen depressiven Stimmungen nicht eine Reaktion auf die Welt und abhängig von dem Verhalten der anderen sind. Vielmehr ist die Erkenntnis sehr hilfreich, dass die beklagten Gefühle wie Wut, Ärger, Enttäuschung, Niedergeschlagenheit, Scham, Depression und das Gefühl, ausgebrannt zu sein, in Beziehung zu den eigenen Verarbeitungsmustern und zum eigenen Verhalten stehen. Sie sind oft Reaktionen auf die selbstgeschaffenen Erfahrungen, die geprägt sind von Entscheidungen gegen die eigene Person. Es gilt, wieder zu lernen, selbstbestimmt zu leben. Ich gestalte mein Leben mit Selbstachtung und übernehme Verantwortung für meine Gefühle, meine Bedürfnisse und mein Lebensglück.

Autor
Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer, Facharzt für Psy­chosomatische Medizin und Psychotherapie, Coach, Lehr- und Paartherapeut, Supervisor, Vortragsredner und Autor Scheidegg/Allgäu. Unter www.anima-mea.org erscheint seine psychoso­matische Hörbuchreihe.