Ob frühmorgens oder spätabends – jede Tageszeit bringt ihre besondere Stimmung mit sich. Julia Kospach schildert, warum das Licht des späten Nachmittags für sie das allerschönste und mit keiner anderen Tagesstimmung zu vergleichen ist.
Es gibt die, deren Lieblingszeit der frühe Morgen ist. Dann liegt der Tag noch weit, lang und breit vor einem. Die Luft ist frisch, die Wiesen sind noch feucht, die Welt bewegt sich gemächlich und ist gerade erst aufgewacht. Es gibt keine Drängerei und keine Hektik. Man kann darin schwelgen, sich vorzustellen, dass man alles ganz für sich allein hat – den Garten, den Wald, das leere Büro, die noch ruhige Stadt mit ihren geschlossenen Geschäften. Erwartung und Hoffnung liegen im frühen Morgen und Augenblicke einer tiefen Ruhe, die umso kostbarer ist, als man weiß, dass sie sehr bald vorbei sein wird.
Dann gibt es die, die den Abend und die Nacht besonders lieben. Sogar arbeiten tun sie um diese Zeit am liebsten und konzentriertesten. Niemand stört sie, niemand ruft an – und wenn, dann sind es Freunde. Der Lichtkegel einer Lampe begrenzt die Umgebung in angenehmer Weise. Man entspannt sich. Die Gedanken und Ideen fließen gut, wenn der Tag vorbei ist. Was die Nachteulen mit Abend und Nacht verbinden, ist ihnen durchwegs angenehm. Das ungestörte Erledigen von Dingen, das Zusammensitzen mit Freunden, das Ausgehen, das gemütliche Liegen auf der Couch, das herrlich anspruchslose Berieseltwerden vorm Fernseher.
Für mich gibt es eine noch viel schönere Tageszeit: den späten Nachmittag. Es ist die Zeit, wenn das strahlende, blendende Gleißen der Tagesmitte übergeht in wärmere Farbtöne und die Schatten beginnen, lang und immer länger zu werden. Der späte Nachmittag ist wie der Herbst: Alles beginnt zu leuchten und zu lodern. Der Raum bekommt Tiefe, weil die Farben nicht mehr hart und fahl sind, wie es eine hoch stehende Mittagssonne bewirkt, sondern im schräg einfallenden Licht erdig, heimelig und besonders dreidimensional wirken. Sogar Gras verliert die Giftigkeit seines mittäglichen Grüns. Die Schatten verleihen allem Struktur. Hausfassaden genauso wie Bäumen. Gesichtern nicht anders als Gegenständen. Und alles zeigt sich von seiner schönsten Seite, weil das Licht besonders schmeichelhaft wirkt. Müsste ich zwischen zwei Gärten wählen, von denen der eine Morgensonne und der andere Spätnachmittagssonne hätte, ich würde nicht eine Sekunde zögern und mich für Zweiteren entscheiden. Das Spätnachmittagslicht macht mich ruhig. Die Augen zu schließen und es für ein paar Momente auf dem Gesicht zu spüren, ist gleichbedeutend mit Zufriedenheit.
Manchmal träume ich nachts sogar von diesem Licht, und wenn ich mich nicht gut fühle, fällt es mir als Sehnsuchtsort ein, an dem Sorgen leichter von mir abfallen. Tatsächlich ist das so. Solange mich warmes Spätnachmittagslicht anleuchtet, kann mir nicht viel passieren. Es kommt mir vor, als würde es mir den Rücken stützen. Sicher, es hält nicht lange an. Irgendwann ist die Sonne hinterm Horizont verschwunden und der letzte warme Sonnenstrahl vorbei. Jedes Mal spüre ich das als kleinen Stich des Bedauerns. Aber ich habe längst gelernt: Wäre das Spätnachmittagslicht immer da, würde sich seine Wirkung bald abnützen.
Weiterführende Literatur
J. Kospach: Glück im Grünen. Momente in Natur und Garten.
Wien, Styria 2019
Autorin
Julia Kospach,
Jahrgang 1968, studierte Linguistik und Slawistik in Wien und Paris und ist seit 2006 als freie Autorin und Journalistin tätig.