Am 15. April 1865 fiel Abraham Lincoln, der 16. Präsident der Vereinigten Staaten, einem Attentat zum Opfer. Nur wenige Tage vor dem tödlichen Anschlag hatte er seiner Frau Mary und seinem Leibwächter Ward Hill Lamon von einem merkwürdigen Traum erzählt: Er habe im Traum einer Beisetzung beigewohnt.
Da er nicht wusste, wer denn dort beerdigt würde, habe er einen Wachsoldaten gefragt. Dieser habe ihm geantwortet, der Präsident sei durch einen Attentäter getötet worden …
Dass jemand im Traum seiner eigenen Beisetzung beiwohnt, geschieht selten. Dass wir träumend Ereignisse vorwegnehmen, die später eintreffen, ist hingegen häufig belegt. Jeder Dritte, so sagen Studien, kann von Wahrträumen berichten. Wen wundert’s, dass Menschen aller Kulturen zu allen Zeiten davon überzeugt waren und sind: Träume sind keineswegs nur Schäume. Wenn vielleicht auch nicht alle, so gibt es doch Träume, die uns etwas zu sagen haben: Träume, die Sinn machen; Träume, bei denen es lohnt, sie zu deuten.
Literatur und Kunst jedenfalls sind voll von solchen Träumen. Von Homer über Novalis bis zu Paulo Coelho: Dass Romanhelden nächtens der Weg gewiesen wird – die Heimat, die Blaue Blume oder den Schatz im eigenen Acker finden – ist ein immer wiederkehrendes Motiv. Wobei sich Literaten ungern festlegen, wer denn der Urheber jener wegweisenden Träume sei. Da ist die Bibel eindeutiger. Im Buch Hiob heißt es: „Im Traum, im Nachtgesicht, wenn der Schlaf auf die Menschen fällt, da öffnet Gott das Ohr der Menschen und schreckt sie auf und warnt sie, damit Er den Menschen von seinem Vorhaben abwende und von ihm die Hoffart tilge und bewahre seine Seele.“ Auch im alten Griechenland, Rom oder Babylon hätte niemand daran gezweifelt, dass ein Traum wie der von Abraham Lincoln göttlichen Ursprungs sei. Die Zweifel kamen erst später, im Zuge der Aufklärung. Nun erschienen die Träume wieder als irrationale Nebensächlichkeiten – Schäume halt, denen man keine Beachtung schenken müsse.
Das Geheimnis der Träume zu ergründen, herauszufinden, ob sie nun Schäume sind oder doch bedeutungsschwangere Einflüsterungen aus einer anderen Dimension, hat sich die Traumforschung zur Aufgabe gemacht.
Am Anfang der Traumforschung steht Sigmund Freud. Von ihm stammt das berühmte Wort, Träume seien der „Königsweg zum Unbewussten“. Denn weder Engel noch Gott, sondern wir selbst sind seiner Ansicht nach Urheber unserer Träume – allerdings nicht willentlich und bewusst. Sondern laut Freud sind es unsere unbewussten, verdrängten, unterdrückten Wünsche und Sehnsüchte, die sich nachts im Traum austoben. Und deren Erfüllung uns unsere Träume vorspielen.
In den 1970er-Jahren nahmen dann die Hirnforscher das Heft in die Hand. Nun wurden Träume mit Elektroden verkabelt und in Schlaflabors minutiös durchleuchtet. Dabei beobachteten die Forscher, dass das schnelle Augenrollen in der sogenannten REM-Schlafphase (REM = Rapit Eye Movement) das Träumen anzeigt. Diese werden von Impulsen aus unserem Stammhirn bewegt. Träume, so schien es, sind nichts anderes als chaotische Entladungen von Hirnströmen, die zu deuten etwa so viel Sinn macht wie die Interpretation eines Hagelschauers.
Inzwischen geht man davon aus, dass Träume intelligente Operationen des Gehirns sind, mit denen wir unerledigte Probleme des Tages durchspielen und dabei ganz andere, überraschende Lösungen finden. Träume, so könnte man sagen, spielen mit den Resten des Tages und schaffen uns damit heilsame Entlastung. Wenn es stimmt, was die neuere Forschung sagt, dann heißt das: Aus Träumen kann man klüger werden – wenn man genau darüber nachdenkt.
Autor
Dr. phil. Christoph Quarch,
Jahrgang 1964, Philosoph, Bestsellerautor, Redner. Von ihm erschien u. a. das Buch „Kann ich? Darf ich? Soll ich?: Philosophische Antworten auf alltägliche Fragen“ (legenda Q 2021). www.christophquarch.de