Liebe Leserin, lieber Leser,
seit Jahren wird der politischen Diskussion in westlichen Ländern eine zunehmend mangelhafte Debattenkultur nachgesagt. Bestimmte Dinge dürften nicht angesprochen werden, sofort werde der Betreffende in eine politische Ecke und via soziale Medien an den Pranger gestellt. Auch in der Medizin gibt es etwas Ähnliches. Ich nenne es „Medical Correctness“. Man verwende mal auf einem überwiegend von „Schulmedizinern“ besuchten Ärztekongress Begriffe wie Aderlass, Darmbäder, Entgiftung, Ausleitung, Entschlackung oder Entsäuerung … Stirnrunzeln und höhnisches Grinsen sind dann typische Reaktionen. Bei anschließenden fachlichen Diskussionen wird im günstigsten Fall ständig aneinander vorbeigeredet.
Nun könnte man das übliche Jammern der Naturheilkunde anstimmen: Deren Fachrichtung werde im modernen Medizinbetrieb systematisch diskriminiert. So einfach sollte man es sich aber nicht machen. Ein zentrales Problem scheint mir: Die Begrifflichkeiten der Naturheilkunde sind der Schulmedizin entweder nicht bekannt oder sie klingen altmodisch und hausbacken, sozusagen unwissenschaftlich.
Was ist die Lösung? Das fachsprachliche Vokabular der wissenschaftlichen Medizin verwenden! Dann wird z. B. aus dem Aderlass die „hypovolämische Dilution“, „Schlacken“ werden zu Stoffwechselendprodukten, Ausleitung und Entgiftung zur „Autophagie“, der Selbstreinigung der Körperzellen, die einst der belgische Forscher Christian de Duve entdeckte, wofür er 1974 den Nobelpreis erhielt. Und ganz wichtig: Studien nennen! Zuzugeben, dass die Datenlage noch etwas unsicher und das Studiendesign verbesserungswürdig ist – überhaupt kein Problem. Auch der Hinweis, bestimmte Empfehlungen seien bislang überwiegend „empirisch“, also aus der klinischen Erfahrung stammend und (noch) nicht wissenschaftlich belegt, wird akzeptiert. Taktisch klug kann es sein, gleich selbst immer wieder vorgebrachte Kritikpunkte an alternativen Heilverfahren anzusprechen und zu bewerten. Kurzum: Durch Anwendung der „Medical Correctness“ gelingt es in vielen Fällen, Botschaften der Naturheilkunde auch Kritikern zu vermitteln und zumindest darüber ins Gespräch zu kommen.
Ich räume allerdings ein, dass schon die Begriffe Naturheilverfahren/-kunde nicht unproblematisch sind, da sie gegenüber der klinischen Medizin sofort Rechtfertigungszwang auslösen. Denn oft wird der eigentliche Kern der Naturheilkunde, die Anwendung in der Natur vorkommender Mittel und Erscheinungen, kaum noch sichtbar. Mit dem Begriff „Lebensstiländerung“ fährt man heutzutage daher häufig besser.