Liebe Leserin, lieber Leser,
die Beschäftigung mit der Geschichte der Medizin ist immer wieder lehrreich. Das, was heute als Außenseitermedizin gilt, war 2000 Jahre lang die an den Universitäten gelehrte Schulmedizin: Auf Basis der hippokratischen Medizin spielten Konzepte der Ausleitung und Entgiftung und des Ausgleichs eine wichtige Rolle, um Gesundheit zu erhalten und sie bei Krankheit wiederherzustellen. Solche Denkansätze werden in der modernen Schulmedizin weitgehend als „anachronistisch“ verachtet bzw. sind überhaupt nicht bekannt.
In dieser Ausgabe stellen wir in unserer losen Folge von Porträts bedeutender Mediziner Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) vor, einen der renommiertesten Ärzte der vergangenen Jahrhunderte. Was ich dabei bemerkenswert finde: Er gehörte offenbar nicht zu den Euphorikern, sondern sah vieles skeptisch, was die Medizin der damaligen Zeit veranstaltete. Vor allem war ihm suspekt, wenn einzelne Denkansätze und Therapien die Lösung für nahezu alle Übel sein sollten. In diesem Sinne bezeichnete er sogar Paracelsus (1493–1541) als „Aufschneider“! Sicher können wir auch von Paracelsus vieles lernen (siehe das Porträt in Ausgabe 10/2013); was aus Hufelands Sicht aber fehlte, sind Bescheidenheit, Transparenz und teilweise auch Rationalität.
Kritische Ansichten, wie sie einst Hufeland über die Medizin seiner Zeit äußerte, sind auch heute notwendig – das betrifft sowohl die Schulmedizin als auch die Naturheilkunde. Professor Peter F. Matthiessen, der ehemalige Dekan der Universität Witten Herdecke, formulierte einmal, ärztlich tätig werden sei mehr als nur unkritisch die Ergebnisse von Doppelblindversuchen umzusetzen. Ich möchte ergänzen: Es sollten auch die Kriterien von Logik und Plausibilität beachtet werden.
Schauen wir uns z. B. die Osteoporose-Behandlung an: Was hat es in den letzten 20 Jahren nicht alles für Therapievorschläge gegeben? Calcitoninspritzen, Fluoridtabletten, Kalziumgaben und Milch bis zum geht nicht mehr, außerdem Bisphosphonate, bis man merkte, dass es dabei Kieferprobleme und Spontanbrüche des Oberschenkels geben kann. Schließlich neuere Substanzen, die unter Namen wie „Prolia“ im Handel sind und heute fast reflexartig verordnet werden – ohne Langzeiterfahrung. Von der Fragwürdigkeit der Knochendichtemessung ganz zu schweigen.
Aber auch die Alternativ- oder Komplementärmedizin hat so ihre Fragwürdigkeiten. Was wurden nicht alles für „sanft“ wirkende Mittel etwa gegen den Magenkeim Helicobacter angeboten – nicht eines hat mich überzeugt. In den 1990er Jahren war Teebaumöl besonders „en vogue“. Es ist ein patentes Hausmittel mit nachgewiesenen Effekten gegenüber Bakterien, Viren und Pilzen. Doch die Masseneuphorie der damaligen Zeit, als es teilweise zum Heilmittel für alles und jedes hochstilisiert wurde, war übertrieben.
Gleiches gilt für Apfelessig oder Eigenharn und vieles mehr. Manche der behaupteten Wirkungen – so hätte es Hufe-land wohl ausgedrückt – sind vor allem auf übertriebene „Schwärmerei“ zurückzuführen. Man könnte es mit dem Medizinsoziologen Paul Lüth auch so formulieren: Zahlreiche Mittel wirken vor allem durch ihren Neuigkeitswert. Ebbt dieser ab, reduziert sich auch die Wirkung.
Bleiben Sie kritisch bei euphorischen Heilversprechen, insbesondere in Bezug auf schwerwiegende Erkrankungen. In diesem Sinne und mit besten Grüßen
Ihr Dr. med. Rainer Matejka