Wenn wir glücklich und frei sein wollen, müssen wir aufhören zu urteilen und uns selbst sowie andere zu bewerten. Denn damit trennen wir uns von Verbundenheit und Liebe und schaffen eine Welt voll projizierter Bedrohungen.
Wir erwarten viel. Entsprechend oft sind wir enttäuscht – meistens von den Anderen. Wir machen uns von ihnen abhängig oder schützen uns durch Rückzug. Unsere Aufmerksamkeit richten wir darauf, was wir von unseren Mitmenschen nicht bekommen, und was sie uns vorenthalten.
Oder wir erwarten von vornherein nichts Gutes und sehen nur das Schlechte, das wir in Alles hineininterpretieren. So leben wir in einer ängstlichen, enttäuschten, wütenden, fordernden und anklagenden Weise unser Leben und unsere Beziehungen.
Worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, das ziehen wir in unser Leben. Mit einer inneren Haltung des Wertens, die wir auf die Welt und unsere Mitmenschen projizieren, verewigen wir Enttäuschungen aus unserer Vergangenheit. Und halten paradoxerweise an dem fest, was uns in der Vergangenheit zugestoßen ist. Wir verpassen die Gegenwart und werden zum Gefangenen früherer schmerzlicher Erlebnisse und unserer Angst. Das Leben ist dann bestimmt durch Mangel und Machtlosigkeit, durch Kampf und Kontrolle. Ständiges Urteilen führt bei uns zu Ärger, Angst, Scham, Selbstwertkrisen, Depressionen, Gekränktsein, Eifersucht und Neid.
Abgetrennt von Liebe und Verbundenheit
Unbewusst entscheiden wir uns für ein Leben in einer „Seifenblase“ – abgetrennt von Vertrauen, Frieden und Verbundenheit. Für Schuld, Konflikt und Unfrieden. Was wir im Außen dieser Seifenblase wahrnehmen, ist der Spiegel unserer inneren Einstellung und unserer Gedanken. Wir sehen nicht die Möglichkeiten, die uns die Wirklichkeit außerhalb unserer kleinen Seifenblasenwelt bietet.
Bis wir die ewige Wiederholung desselben satt haben und nicht länger leiden wollen: Dann können wir neu wählen und uns dafür entscheiden, unsere alte Mentalität los- und die Seifenblase platzen zu lassen. Der erste Schritt ist wahrzunehmen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen unserer Entscheidung in Besorgnis zu geraten oder anzugreifen und ihren unglücklich oder krank machenden Wirkungen. Im nächsten Schritt gelingt es vielleicht, uns nicht länger mit den Urteilen des Egos, unseres kleinen „Angst-Ichs“, zu identifizieren.
Wir wollen offen sein für eine neue Art der Wahrnehmung und entscheiden uns gegen unser altes, automatisches Interpretationsmuster des Denksystems der Angst. Machen wir stattdessen vor allem Frieden und liebevolle Verbundenheit zu unserem Ziel. Denn wie düster auch immer sich die Umstände darstellen mögen, es liegt an uns, ob wir ihnen mit Liebe oder Angst begegnen. Wenn wir erkennen, dass die Welt, die wir sehen, die furchterregende Natur des Selbstbildes, das wir von uns selbst haben, widerspiegelt, ist es unerlässlich, dieses Selbstbild loszulassen.
Wie können wir erkennen, wer wir sind, wenn wir uns selbst als jemanden sehen, der ständigen Angriffen ausgesetzt ist? Schmerz, Krankheit, Verlust, Alter und Tod scheinen uns zu bedrohen. All unsere Hoffnungen, Wünsche und Pläne liegen vermeintlich in der Hand einer Welt, über die wir keine Kontrolle haben. Die Welt, die wir sehen, hält unser angsterfülltes Selbstbild aufrecht und ist Gewähr, dass es bestehen bleibt.
Uns dämmert allmählich, dass Wahrnehmung Projektion ist. Dass es unsere eigenen Vorurteile sind, die unsere Verletzlichkeit, Angst- und Angriffsgedanken sowie die Welt, die wir sehen, aufrechterhalten. Aber wir möchten lernen, die Dinge und unsere Mitmenschen anders zu sehen. Wir wollen die Welt und uns selbst mit Barmherzigkeit und Liebe betrachten.
In unserem eigenen Geist, hinter all unseren angstbasierten Gedanken der Trennung und des Angriffs, liegt die Erkenntnis, dass alles eins ist. Wir haben alle das gleiche Interesse, nämlich glücklich zu sein. Und nur, weil wir die Erkenntnis über uns selbst und darüber was wir sind, vorübergehend vergessen, haben wir das Wissen nicht endgültig verloren.
Wenn wir lernen, nach innen zu schauen, achtsam unsere Gedanken und Gefühle beobachten und mit unserem Bewusstsein an ihnen und unseren Problemgeschichten und bewertenden Analysen vorbeigleiten, gelangen wir an einen inneren Ort der Stille und des Friedens. Wir empfinden liebevolle, freudvolle Verbundenheit mit allem was ist – und dann sind wir ganz bei uns, zu Hause in einem heilsamen Augenblick.
Den inneren Ort der Stille finden
Wenn wir auf diese Stille lauschen, sie befragen und um Hilfe bitten, werden wir intuitive Impulse wahrnehmen, wie wir den Sinn des Augenblicks erkennen können und wie liebevolles Sprechen und Handeln möglich wird. Dann lassen wir uns nicht mehr von der Angst leiten, sondern von dieser Stimme der Liebe, die alles entweder als einen Ausdruck von Liebe deutet oder als Ruf nach Liebe.
Und plötzlich sind wir frei – die Seifenblase ist zerplatzt und die Wahrnehmung unserer Welt eine andere. Niemals kann uns das, was von anderen ausgeht und wie sie uns behandeln, definieren oder bestimmen. Außer wir geben ihnen die Macht dazu. Nur das, was an Gedanken, Worten und Taten in uns selbst entsteht, bestimmt uns selbst, spiegelt wer wir sind und zeigt das Bild, das wir von uns haben.
Treu zu sich selbst und gütig zu anderen
„Lieben können macht glücklich“, schreibt der Dichter Hermann Hesse (1877 – 1962), der seine Lebensphilosophie am Ende in folgendem Satz zusammenfasste: „Treue zu sich selbst – und Güte zu den Menschen.“ Aber wir wollen lieber selbst geliebt werden und machen uns damit zu ängstlichen und unglücklichen Mängelwesen und süchtigen Bettlern – süchtig nach Liebe und Anerkennung.
Bereits der Philosoph Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) schrieb: „Du sollst nicht Geliebtsein wollen, wo Du nicht liebst.“ Am liebsten möchten wir von allen und immer geliebt werden. Dass das nicht möglich ist, können wir jedoch an der eigenen Liebesfähigkeit ablesen: Denn wir schaffen es meist nicht einmal, mit unseren Nächsten konsequent liebevoll umzugehen oder mit uns selbst. Und je weiter entfernt uns Freunde, Bekannte oder Fremde stehen, desto weniger Mitgefühl entwickeln wir häufig.
Von Ernst Ferstl (*1955), einem österreichischen Schriftsteller, zitiere ich gern den schönen Satz: „Was wir an Liebe geben, verleiht unserem Leben Gewicht – was wir an Liebe bekommen, erleichtert es.“ Aber erwarten und fordern sollten wir solche Erleichterungen und Liebesbekundungen nicht.
Wir können nur bei uns selbst anfangen
Fangen wir bei uns selbst an. Und seien wir die Veränderung, die wir uns für diese Welt wünschen, wie Mahatma Gandhi (1869 – 1948) empfahl. Verleihen wir also unserem Leben Gewicht und üben uns immer wieder in Nächstenliebe. Schenken wir außerdem Anderen ein Lächeln, vergeben wir alten Groll und lassen unsere vorschnellen Urteile fallen. Schenken wir anderen Menschen Akzeptanz und praktizieren Hilfsbereitschaft und Kollegialität – und zwar ohne Gegenleistungen oder Dankbarkeit zu erwarten.
Geben wir unser Anspruchsdenken auf und erleichtern wir das Leben Anderer – und unseres damit gleich mit. Denn was wir geben, das werden wir empfangen. Wenn wir unser Denken ändern, verändert sich die Welt. Und natürlich wissen wir eigentlich alle, woran uns der Schriftsteller Erich Kästner (1899 – 1974) stets erinnert: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“
Geliebt werden wollen macht Angst, Lieben können und Vergeben hingegen glücklich und sinnerfüllt. Deshalb erinnere ich zum Schluss an die goldene Regel, die in allen spirituellen Traditionen in ähnlicher Weise zu finden ist – hier in meiner persönlichen Version:
Lebensregel, die glücklich macht
Was Du nicht willst, dass man Dir tu,
das füg weder Dir selbst, noch anderen zu!
Und was die Anderen Dir solln geben,
das gib Dir selbst und Anderen,
so wirst Du zufrieden leben.
Bewahr Dir ein liebend- mitfühlendes Herz und üb deine Gaben,
das macht glücklicher als bloßer Schein und viel zu haben.
Genieß den Augenblick achtsam mit allen Sinnen,
tue Gutes, ohne festzuhalten, üb dich stets in Dankbarkeit,
so ist dein Leben voller Eigen-Sinn und Heiterkeit.
Gebet des heiligen Franz von Assisi
Herr, mach mich zu einem Werkzeug Deines Friedens,
dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich verbinde, wo Streit ist;
dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;
dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;
dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert;
dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.
Herr, lass mich trachten, nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;
nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;
nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.
Denn wer sich hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergisst, der findet;
wer verzeiht, dem wird verziehen;
und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.