Nächstenliebe – Ich sehe was, was Du nicht siehst
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Bewusstsein

Nächstenliebe – Ich sehe was, was Du nicht siehst

Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Ein in sich verkapselter Mensch ist niemals glücklich – ungeachtet eventuell günstiger Lebensumstände. Ganz gleich wie groß beispielsweise materieller Erfolg im Außen sein mag: Solange wir uns isolieren und einen Wall zwischen uns und unseren Mitmenschen hochziehen, leben wir in Angst, Schmerz, innerer Leere und Mangel. Wir sind und bleiben einsam – auch wenn wir noch so viele Partys besuchen, uns mit unzähligen Leuten umgeben, oder mit hundert Kollegen in einem Großraumbüro sitzen.

In diesem Zustand haben wir uns nämlich nicht nur emotional von denjenigen getrennt, die uns umgeben. Wir haben uns auch von dem entfernt, was wir wesenhaft, ja wesentlich sind: der Liebe. Viele Menschen leben – bewusst oder unbewusst – in Angst, stiller Verzweiflung oder ebenjener Isolation. Gerade zu letzterer gehört die Annahme, alle Probleme allein lösen zu müssen, Gefühle, wie Traurigkeit verstecken zu müssen. Isolation kann sich aber auch als Misstrauen zeigen: der Überzeugung, dass andere Menschen es nicht gut mit einem meinen und nur darauf erpicht sind, einem Dinge anzutun und Schaden zuzufügen. Darin steckt auch die Ansicht, dass das Glück sich durchaus einstellen könnte, und zwar dann, wenn die anderen sich endlich änderten. Auch der soziale Vergleich, der häufig in Neid und Missgunst endet, entsteht aus Isolation und führt zugleich hinein. Wer sich isoliert, sitzt sozusagen in Einzelhaft – ohne Licht, ohne Wärme.

Tatsächlich fühlen wir uns innerlich kalt und dunkel. Die seelische Leerstelle lässt sich durch nichts füllen, und wir können nicht in unserem Licht erstrahlen. Nicht selten versorgen wir uns selbst mit negativen Suggestionen: „Unter diesen Umständen kann ich nicht glücklich sein!“, „Das kann ich niemals vergeben!“, „Das muss sich ändern, bevor ich wieder lieben und glücklich sein kann!“ oder „Nein, das akzeptiere ich nicht. Das darf nicht sein!“, um nur einige Beispiele zu nennen. Solche wertenden, ja verurteilenden Gedanken sind Angriffe auf den eigenen Seelenfrieden und lassen uns in einer selbst erschaffenen Hölle schmoren.

Dabei wäre es unsere Aufgabe, unbeeinflusst von dem, was wir sehen und hören, zu scheinen und zu leuchten. Der erste Schritt ist, wahrzunehmen, ohne zu werten und zu urteilen, nicht länger in „gut“ und „schlecht“, also in Kategorien einzuteilen. Die Welt ändert sich nicht. Wir sind es, die uns und unser Denken ändern dürfen, um zu unserem wahren Wesen, unserem höheren Selbst zurückzukehren. Sinnvolle Fragen für eine entsprechende Selbstentwicklung und -reflexion können sein:
► Wie will ich reagieren?
► Was ist meine Antwort?
► Was würde die Liebe tun?

Liebe, Wertschätzung und Hilfsbereitschaft sind die einzig geeigneten Antworten, wenn es meine Zielsetzung ist, glücklich und in Frieden zu sein und zu bleiben.

Letztendlich stellt alles, was geschieht und getan wird, einen Ausdruck von oder einen Ruf nach Liebe dar.

Wonach handeln und wie leben Sie? Dehnen Sie Liebe aus? Zeigen Sie Wertschätzung? Drücken Sie Dankbarkeit aus? Sind Sie glücklich? Und im Frieden? Oder warten Sie darauf, dass äußere Dinge sich ändern? Lassen Sie sich vom Verhalten anderer Menschen emotional in Mitleidenschaft ziehen? Und geben so den Schlüssel für Ihr Glück an andere ab?

Wenn wir der Liebe folgen, und dazu zählt auch, dass wir neben der Selbstliebe die Nächstenliebe praktizieren, erleben wir pure Sinn­erfüllung. Doch was ist das eigentlich, echte Nächstenliebe? Mit Spenden, milden Gaben und Almosen ist es jedenfalls nicht getan. Nächs­tenliebe ist vielmehr die Art und Weise, wie wir auf einen anderen Menschen schauen. Wir sehen ihn, wie er gemeint ist. So als ob er schon weit über seine aktuellen Fertigkeiten hinausgegangen wäre und sein Potenzial bereits voll ausschöpfen würde. Nächstenliebe ist, unser Gegenüber vollständig, vollkommen, unschuldig, heil, bedingungslos geliebt, schöpferisch begabt und wertvoll zu sehen, und das Beste von ihm anzunehmen. Wenn wir unseren Nächsten sehen können, wie er sich selbst (noch nicht) sehen kann, praktizieren und sind wir wahre Liebe.

Autor
Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Coach, Lehr- und Paartherapeut, Supervisor, Vortragsredner und Autor Scheidegg/Allgäu. Unter www.anima-mea.org erscheint seine psychosomatische Hörbuchreihe. In der Rubrik „Seele in der Krise, Körper in Not“ beantwortet er Fragen von Naturarzt-Leserinnen und -Lesern.