Liebe Leserin, lieber Leser,
man steige am besten an einem Freitag oder Sonntag in einen x-beliebigen Fernzug der Deutschen Brems- und Betriebsstörungs AG (DB) (so nenne ich die Deutsche Bahn wegen ihrer ständigen Pannen und Fehlplanungen).
Am besten nutzt man einen Raucherwagen, um die gesuchte Spezies anzutreffen: zwischen 35 und 55, überwiegend männlich. Oft verquollenes Gesicht. Schon am Vormittag wird Bierdose um Bierdose geleert, zwischendrin geraucht. Reist eine solche Person einzeln, gibt sie meist über Stunden außer Schluck-, Saug- und Räuspergeräuschen keinen Laut von sich. Tritt diese Sorte Mensch in Gruppen auf, ist sie betont laut und grölt womöglich ab und zu auf höchst unmusikalische Weise ein Lied. Befinden sich im Waggon Reisende, sagen wir aus Fernost, bekommen diese einen hervorragenden Einblick, welch‘ phantastisches Kulturland das moderne Deutschland doch ist.
Ich stelle mir in dieser Situation vor, ein solcher deutscher Paradezeitgenosse sitzt vor mir in einer Arztpraxis wegen Husten, ständiger Erkältung, Ziehen in Arm oder Schulter oder sonstiger Zivilisations-Beschwerden. Jedesmal wird mir dabei die Sinn- und Aussichtslosigkeit bewußt zu glauben, man könne diese Personen „auf ganzheitlichem Wege“ über „tieferliegende Krankheitsursachen“ aufklären und zu einer Umkehr, mindestens zu einer Modifikation der Lebensweise bewegen.
Es wäre ein Gegen-die-Wand-reden, ein Sich-lächerlich-machen, eine Sisyphusarbeit, die letztendlich zu nichts anderem führen würde, als den eigenen „Akku“ zu leeren und zu überlegen, ob der Arztberuf auf Dauer wirklich der richtige ist. Man muß dabei bedenken, daß in zahlreichen Hausarztpraxen und Notfallsprechstunden die Zahl dieser intellektuell eher minderbemittelten, im Hinblick auf forsches Auftreten aber eher überkompensierten Zeitgenossen deutlich häufiger als im repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt ist.
Für den ganzheitlich ausgerichteten Therapeuten muß daher das überkommene deutsche Gesundheitswesen, das stets nur die Ansprüche des einzelnen an das System suggeriert, niemals aber beispielsweise die Höhe der Versicherungsbeiträge an den Grad des gesundheitsbewußten Verhaltens koppelt, in höchstem Maße zermürbend sein.
Die Asklepiaden – ein bedeutendes Ärztegeschlecht im alten Griechenland – hatten es damals einfach: Sie behandelten nur diejenigen Krankheitsbilder, die es auch wert waren. Die Behandlung unheilbarer Erkrankungen lehnten sie von vornherein ab, ebenso die Behandlung unkooperativer Zeitgenossen.
Für Therapeuten und Anhänger der naturheilkundlichen Medizin bietet sich daher an, sich vor allem auf die Menschen zu konzentrieren, die Bereitschaft, Interesse und Einsicht haben, aktiv an der Gesundung mitzuarbeiten – also ein Stück weit Asklepiade zu werden. Der Patient muß dabei weder eine „höhere Bildung“ oder sonstige elitäre Züge aufweisen. Auch braucht er keine fundierten Kenntnisse über gesunde Lebensführung. Zwei Dinge sollte er aber mitbringen: die Erkenntnis, daß Gesundheit ein Stück Eigenleistung darstellt und ein gewisses Interesse an Fragen zur gesunden Lebensführung.
Oft zeigt sich, daß besonders Angehörige der mittleren Altersgruppe (oft ohne gravierende Erkrankung) zwischen 40 und 60, und hier wiederum besonders Frauen, sich zunehmend mit Fragen der eigenen Gesundheit und Vorbeugung von Krankheiten auseinandersetzen. Ein Faktum, das zu Hoffnung Anlaß gibt.