Liebe Leserin, lieber Leser,
„Am Anfang war das Wort“ – so beginnt auch eine Abhandlung über die Geschichte der Medizin. Das richtige Wort durch den Arzt war einst der entscheidende und oft auch der einzig mögliche Therapiefaktor. Später kam dann die Heilpflanze hinzu. Die heutige moderne Medizin feiert bezeichnenderweise ihre größten Erfolge dort, „wo sie stumm ist“ – wie es Hartmut Schröder, Professor für Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung an der Universität Frankfurt (Oder), ausdrückt: Intensivmedizin, Schrittmacher-
einbau, Austausch von Augenlinsen und Hüftgelenken – hier hat die moderne Medizin ihre Stärken, auch ohne viele Worte.
Das „Wort“ müsste eigentlich in der Naturheilkunde einen hohen Stellenwert haben. Aber ist dem so? Schwer zu sagen. Den Wert der Worte hat die Naturheilkunde zwar entdeckt, aber in anderer Weise: Es werden viele Worte drumherum und darüber gemacht, die Komplementärmedizin will sich mit wissenschaftlichem Vokabular oder jedenfalls fortschrittlich klingender Terminologie Anerkennung verschaffen.
Betrachtet man die letzten 20 Jahre, lassen sich dabei unterschiedliche Strömungen erkennen. Jahrelang machten Vertreter einer „rationalen“ Naturheilkunde von sich reden, die zunächst einmal alles infrage stellten, überall mögliche Risiken und Kontraindikationen sahen, so dass selbst der Einsatz eines Wadenwickels bei Fieber zu einem aufwendigen Akt wurde, der erst nach „kritischer Abwägung“ überhaupt denkbar war. Ich würde so etwas als „negative Naturheilkunde“ bezeichnen. Zum Glück gibt es mittlerweile eine neue Generation von Forschern, die viel pragmatischer sind und regelmäßig interessante Studien zu altbewährten Verfahren veröffentlichen, die oft das frühere Erfahrungswissen bestätigen.
Andererseits bekomme ich täglich Post mit Einladungen zu komplementärmedizinischen Veranstaltungen, bei denen es um neueste „bahnbrechende“ Konzepte und Apparate geht, mit denen man gerade bei „therapieresistenten Krankheitsbildern“ den Durchbruch erzielen könne. Virtuos wird dabei mit Begriffen wie Regulation, Störfeld, Energiefluss, Balance, Stoffwechsel usw. hantiert. Natürlich sind das die Dinge, um die es in der Naturheilkunde geht. Trotzdem erscheinen mir viele der Angebote vor allem einem Ziel zu dienen: neue Fortbildungsveranstaltungen und technische Geräte „zu verkaufen“.
Nichts gegen neue Konzepte, aber bei genauem Hinsehen handelt es sich oft um Varianten althergebrachter Dinge, die in neuem Gewand und mit neuem Namen erscheinen. Mir ist zwar bewusst, dass es im Zeitalter der Laktose- und Gluten-Intoleranz, der multiplen Allergien und toxischen Belastungen nicht einfach mit „Vollwertkost + Bewegung“ getan ist. Allerdings wünschte ich mir, dass die Naturheilkunde in der Breite wieder klarer und einfacher daherkäme und – wie es Johann Abele einst formulierte – mit Offenheit und „Stolz“ ihre bewährten Verfahren, wie sie sich in den Kneippschen Säulen widerspiegeln, als Grundlage der Medizin einsetzen und propagieren würde. Eine Prießnitzkur mit Butterbrot, Quellwasser, intensiven Märschen, Waldduschen, Ruhe und eben guten Gesprächen – um auf „das Wort“ zurückzukommen –, eine solche Basisbehandlung ist für mich überzeugender als manches, was heute im Bereich der Komplementärmedizin mit neu kreierten Fachbegriffen und Anglizismen angeboten wird.