Liebe Leserin, lieber Leser,
vor mir liegt der Beipackzettel eines gängigen und als recht unkompliziert geltenden Antidepressivums, das auch bei Schlafstörungen Anwendung findet. Auseinandergefaltet hat er eine Größe von 71 x 15 cm (0,2 Quadratmeter!) und ist beidseits eng beschriftet.
Die Gliederung solcher „Beipacks“ ist heute standardisiert. An erster Stelle steht, wofür bzw. wogegen das jeweilige Präparat zum Einsatz gelangt. Dann wird ausgeführt, was man vor der Einnahme der Substanz beachten und wann man das Präparat nicht zuführen sollte – etwa bei einer Allergie auf die Wirksubstanz. Dass man über eine mögliche Unverträglichkeit im Vorhinein selten Bescheid wissen kann, verunsichert viele Patienten.
Im Anschluss jedenfalls folgen zahllose Warnhinweise, in deren Fall auf die Einnahme verzichtet werden muss. Im Falle des Antidepressivums heißt es an einer Stelle wörtlich: „Wenn Sie depressiv sind, können Sie manchmal Gedanken daran haben, sich selbst zu verletzen oder Suizid zu begehen. Solche Gedanken können bei der erstmaligen Anwendung von Antidepressiva verstärkt sein”. Spätestens jetzt werden auch die Patienten, die den endlos langen Text gelesen und bis zu diesem Punkt „durchgehalten“ haben, das Mittel zur Seite legen. Eine lange Auflistung komplexer Wechselwirkungen bei gleichzeitiger Einnahme anderer Präparate folgt. Gewarnt wird vor der Kombination des Antidepressivums mit Magensäureblockern und Alkohol. Schwarzer Tee kann die Wirkung herabsetzen. „Möglicherweise“ könnten auch Kaffee und Fruchtsäfte zu einer Minderung der gewünschten stimmungsaufhellenden Effekte führen. Es darf natürlich auch ein Hinweis auf die Schwangerschaft und Stillzeit als Kontraindikation nicht fehlen, denn hierzu liegen „keine ausreichenden“ Erfahrungen vor … Außerdem ist die Fähigkeit zum Bedienen von Maschinen durch das Medikament sehr wahrscheinlich beeinträchtigt. Das gilt unter Umständen auch für das Autofahren. Schließlich kommt endlich das, was man dem Zettel eigentlich entnehmen möchte: Dosierungsangaben bei verschiedenen Depressionsformen und die Information, wie das Präparat einzunehmen ist. Doch wer dann glaubt, er hätte sich durch den Beipackzettel „geackert“, den erwartet eine neuerliche Aufzählung unerwünschter Begleiteffekte: schwerwiegende Blutbildveränderungen, endokrine Erkrankungen, psychiatrische Erkrankungen (!), Unruhezustände, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen, Verwirrtheitszustände, insbesondere bei älteren Menschen. Bewusstseinsstörungen können auftreten. Eine Depression kann in einen Zwang umschlagen. Ferner sind Sprachstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen, Zittern und Benommenheit, Glaukomanfälle und Ohrensausen sowie Blutdruckschwankungen beschrieben. Noch mehr gefällig? Besser nicht!
Wohlgemerkt – es handelt sich um ein verhältnismäßig banales Antidepressivum, das auch als Schlafmittel genutzt wird, weil es die Traumphasen nicht unterdrückt. Doch ich bin mir sicher: Wer solche Horror-Beipackzettel liest, wird in vielen Fällen „dankend“ verzichten. Auch wenn der Grund für diese Art Beipackzettel, mit denen sich ganze Praxiswände tapezieren lassen, der nachvollziehbare Wunsch ist, sich – juristisch gesehen – in alle Richtungen abzusichern: über eine mangelnde Bereitschaft des Patienten, zu neudeutsch „Compliance“, muss sich dann niemand mehr wundern …