Liebe Leserin, lieber Leser,
es gibt amüsante Missverständnisse. Vor kurzem las ich im Videotext eines Fernsehprogramms die Schlagzeile: „Intensives Pendeln macht krank“. Ob Sie es glauben oder nicht: Ich dachte dabei an Therapeuten, die das Pendeln zum Herausfinden einer möglichst optimalen Therapie oder zum Erhärten einer Diagnose einsetzen. Völlig abwegig wäre diese Formulierung nicht einmal gewesen, denn manche glauben ja, Pendeln mache Kernspintomographien und andere moderne Diagnostik überflüssig, und man könne die Frage einer ernsten Erkrankung auch durch Pendeln beantworten. So etwas halte ich in der Tat für gefährlich.
Im vorliegenden Fall ging es aber um etwas ganz anderes: Das tägliche Pendeln zum Arbeitsplatz mache krank, behauptet eine Studie der AOK. Ich habe nach der genauen Machart der Studie gesucht, aber lediglich den Hinweis gefunden, dass es sich um eine Befragung gehandelt haben soll, deren wissenschaftliche „Evidenz“ bzw. Qualität wohl eher durchschnittlich war. Es macht sicherlich einen Unterschied, ob man eine längere Wegstrecke zum Arbeitsplatz „auf freier Strecke“ zurückzulegen hat oder in der S-Bahn oder irgendwo im Stau bzw. an dämlich geschalteten roten Ampeln verbringt.
Was aber auch krank macht – und dies zeigt die besagte Studie ebenfalls: ständige Erreichbarkeit, bis zum Exzess getriebene „Flexibilität“ und absurde Zielvorgaben. Besonders wenn es um den Vertrieb von Produkten geht, die zudem von diversen Mitbewerbern angeboten werden, kann man sich die krankmachende Problematik leicht ausmalen.
Mich würden schon manche Stellenanzeigen krank machen. Viele sind ähnlich getextet: Der Bewerber soll jung und dynamisch sein, aber selbstverständlich über jahrelange Erfahrung verfügen. Er soll durchsetzungsstark sein, aber natürlich empathisch und vor allem „teamfähig“. Perfekte Englischkenntnisse und am besten noch eine weitere Fremdsprache werden ebenso vorausgesetzt wie Verhandlungsgeschick, Kreativität und Einsatzbereitschaft. Kurzum: Man sucht nur noch Supermen und Superwomen. Was für ein Hochmut. Da steigt schon beim Lesen der Blutdruck, und man fragt sich, welche Personalabteilungen solche irrsinnigen Anzeigen aufgeben. Wie ein Insider zu Recht bemerkte, ist es dann häufig die Aufgabe solcher Führungskräfte mit zerknirschter Miene vor der Presse zu erklären, warum das Unternehmen in die roten Zahlen rutschte, ein Großprojekt schief gegangen ist oder zahlreiche Arbeitsplätze abgebaut werden müssen. Klugheit, Besonnenheit und vor allem die Fähigkeit, langfristig zu denken, schienen mir viel wichtiger. Und glücklicherweise gibt es Personalchefs, die genau darauf Wert legen.
Irgendwo sind wir in diesem Zusammenhang bei der „Ordnungstherapie“, einem Leitthema der Naturheilkunde. Neuerdings werden auch Begriffe wie „Gesundheitstraining“ und „Lebensbalance“ als Synonym für den etwas antiquierten Begriff aus der Kneipp-Lehre gebraucht. Wenn schon der Beruf so sehr beansprucht, sollten wir uns nicht auch noch in der Freizeit unter Dauerstress setzen. Treffend brachte es ein Journalist auf den Punkt: Die Einsamkeit und teilweise Entvölkerung einiger Landstriche ist keine Katastrophe, sondern kann auch ein wohltuendes Korrektiv zu dem Gewusel der Ballungszentren sein. Die Natur als Ruhepol und Kraftpol, der zudem nichts kostet. Das nenne ich angewandte Naturheilkunde!