Wo sind sie hin, die guten alten Tugenden der Bescheidenheit und Zurückhaltung? Kann es sein, dass Narzissmus sich (zumindest teilweise) immer mehr durchsetzt? Sich selbst zur obersten Priorität zu machen, scheint zu einer gesellschaftlichen Bewegung geworden zu sein: Kollektiver Egotrip statt Gemeinsinn und Hilfsbereitschaft.
Heute ist fast jeder auf der Suche nach seinem wahren Selbst oder seiner wahren Berufung. Eine solche Reise nach Innen ist nachvollziehbar und auch durchaus sinnvoll – vorausgesetzt, der Blick auf die Bedürfnisse der anderen bleibt dabei nicht auf der Strecke. Wenn die Sinnsuche allerdings zum egoistischen Selbstfindungstrip wird und wir uns als den Nabel der Welt wahrnehmen, liegen die echten Schwierigkeiten erst vor uns. Denn bedingungslose Ich-Bezogenheit mag überall hinführen – jedoch nicht in ein zufriedenes und erfülltes Leben.
Aktuell entwickelt sich ein regelrechter Selbstverwirklichungs-Markt, auf dem sich unzählige (oft selbsternannte) „Experten“ tummeln, die uns das ultimative Glück versprechen. Die Grenze zwischen purem Egoismus und einem gesunden Verhältnis zum eigenen Ich verschwimmt dabei allzu oft. Aber mal ehrlich: Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der sich jeder selbst der Nächste ist und den Fokus ausschließlich auf die eigenen Wünsche richtet?
Vielleicht brauchen wir stattdessen mehr Empathie und Gespür für die Bedürfnisse der anderen – ob Mensch, Tier oder auch die Natur. Wir müssen wieder lernen, uns selbst zurückzunehmen und Werte wie Bescheidenheit und Nächstenliebe in unserer Gesellschaft kultivieren. Die weitverbreitete Botschaft, dass wir anderen erst etwas zurückgeben können, wenn wir das eigene Glück gefunden haben, erscheint dagegen wenig lebensnah.
Ältere Leute in unserem Dorf erzählen noch von Zeiten, als die Nachbarn zum Helfen kamen, wenn jemand in Not war. Ist zum Beispiel eine Scheune abgebrannt, hat man sie gemeinsam wieder aufgebaut. Heute ist eine solche bedingungslose Hilfsbereitschaft sehr selten geworden.
Dabei hatten die Menschen damals nicht mehr Zeit und Geld zur Verfügung. Das Leben war in vieler Hinsicht um einiges härter als heute. Bescheidenheit wurde als Tugend gesehen. Dinge wurden wertgeschätzt und in Stand gehalten. Glücksratgeber, Selbstfindungsseminare und dergleichen mehr gab es nicht. Aber man konnte sich aufeinander verlassen. Und genau das hat den Menschen Zufriedenheit und auch Geborgenheit geschenkt.
Für andere da zu sein, ist sogar der Gesundheit förderlich – wie auch eine wissenschaftliche Studie der University of British Columbia (Kanada) bestätigt.
Fast alle haben wir heute Stress mit der eigenen Lebensplanung. Wir fühlen uns unter Druck gesetzt von den unzähligen Möglichkeiten und Anforderungen der modernen Welt. Aber muss das so sein?
Wie wäre es stattdessen, weniger zu wollen und mehr zu geben? Im JETZT zufrieden zu sein und sich selbst und seinen Weg zu akzeptieren. Das ist gelebte Achtsamkeit. Schließlich kann man seine Berufung auch darin finden, ein einfaches Leben zu führen. Ohne viel Aufhebens, Bekanntheit oder Ruhm. Einfach, indem man versucht, ein guter Mensch zu sein. Das heißt nicht, dass wir uns nicht weiterentwickeln können. Aber natürlicher – ohne diesen Zwang, ständig das eigene Leben anschauen und „verbessern“ zu müssen.
Vier Gründe, sich selbst weniger wichtig zu nehmen
Sich selbst etwas weniger wichtig nehmen – das wäre eine Lösung für viele Probleme in unserer Gesellschaft. Und das Tolle daran: In Wahrheit macht Geben viel glücklicher als Nehmen.
- Anderen zu helfen, macht glücklich. Menschen, die sich um andere kümmern, sind erwiesenermaßen gesünder und zufriedener als Egoisten.
- Das Leben ist leichter, wenn man sich selbst nicht zu ernst nimmt. Schließlich kostet es eine Menge Energie, das ultimative Glück zu finden und all seine Bedürfnisse zu stillen. Eine Portion Humor und Bescheidenheit helfen, auch mal über sich selbst zu lachen und sich nicht allzu wichtig zu nehmen.
- Wenn wir für andere da sind und respektvoll mit Menschen, Tieren und der Natur umgehen, machen wir den Planeten zu einem lebenswerten Ort – auch für zukünftige Generationen. Klimawandel, Artensterben, Plastikflut, Ressourcenverschwendung, Massentierhaltung – das sind alles Probleme, die in unserer unendlichen Gier nach Mehr begründet sind. Wir wissen zwar, dass wir unseren Lebensstil ändern müssen, aber die Wenigsten fangen bei sich selbst an.
- Loslassen und annehmen ist viel befreiender als die Suche nach dem Glück. Wenn ich nicht ständig nach etwas Besonderem suche, habe ich mehr Zeit im JETZT glücklich zu sein. Ich kann mich dem widmen, was IST, und daraus entsteht dann wieder etwas Neues. Das ist praktizierte Achtsamkeit.