Liebe Leserin, lieber Leser,
der Begriff „Stand der Wissenschaft“ oder die Formulierung „wissenschaftlich anerkannt“ sollte nicht vorschnell dazu führen, alle so bezeichneten Verfahren und Methoden unkritisch zu akzeptieren. Umgekehrt muss das Fehlen wissenschaftlicher Studien noch kein Beweis für die Unwirksamkeit einer Methode sein. In der Medizin zeigt vor allem die langfristige, praktische Erfahrung am Patienten, ob Verfahren nutzbringend und wirksam sind. Am besten ist es daher immer, wenn beides übereinstimmt: Studienergebnisse und die Erfahrung in der Praxis.
Gerade der Komplementärmedizin (KM), eine Art Sammelbegriff für Verfahren wie Naturheilkunde/Homöopathie etc., – oft auch „Erfahrungsmedizin“ genannt – wird gern der Makel angeheftet, nicht ausreichend wissenschaftlich „validiert“ zu sein. Und das, obwohl viele Methoden seit Jahrzehnten oder länger erfolgreich praktiziert werden. Kritiker der KM weisen in aller Regel keine eigene Erfahrung im Umgang damit auf. Noch bemerkenswerter ist, dass gerade in Wissenschaftlerkreisen Studien über die KM oft nicht bekannt sind.
Wie die Erfahrung zeigt, hilft den Vertretern der KM aber weder jammern, noch anbiedern, schon gar nicht die aggressive Ablehnung der „Schulmedizin“, auch nicht der Satz „wer heilt, hat Recht“, um anerkannt zu werden. Stattdessen ist gegenüber Kritikern ein Verweis auf Studien am hilfreichsten. Denn es gibt inzwischen eine ganze Reihe guter Belege für Verfahren der KM.
Wie Prof. Dominik Irnich, München, in der Zeitschrift „Komplementärmedizin“ schreibt, existieren mittlerweile Hunderte aussagekräftige Studien mit guter „Evidenz“, insbesondere sogenannte Beobachtungs- und Fallkontrollstudien, in den letzten Jahren zunehmend auch Studien zur Grundlagen- und Versorgungsforschung. „Das zu verschweigen ist unredlich“, so Irnich. Gute Belege gibt es beispielsweise für Akupunktur, Schröpfen, Neuraltherapie bei Schmerzerkrankungen, Yoga, Qigong etwa bei Fibromyalgie. Zunehmende Akzeptanz findet die „Ordnungstherapie“ unter neueren Begriffen wie Lebensstilmodifikation. Die Bewegungstherapie etwa ist vor allem bei Depressionen, chronischer Müdigkeit und Brustkrebs gut belegt.
Interessant auch ein Blick auf die Verbreitung von KM: Demnach zeigen über 70 Prozent der Ärzte in Deutschland Interesse an KM – und viele praktizieren sie auch. Bei den Medizinstudenten lag das Interesse bei 40 Prozent. Eine europaweit durchgeführte Untersuchung, bei der überwiegend Onkologen befragt wurden, zeigte im Schnitt in 14 Ländern (ohne D): knapp 36 Prozent der Befragten wenden KM an, in Griechenland nur 14,8 Prozent, in Italien über 70 Prozent.
Unter dem Strich bleibt: Bei allen Fortschritten der modernen Medizin in Diagnostik und Therapie – neuerdings auch in der Onkologie – wird eine Medizin der Zukunft ohne die großen Themen der KM nicht funktionieren. Die wissenschaftliche Medizin hat Schwächen in der vorbeugenden und ursächlichen Behandlung der Zivilisationskrankheiten, bei fachübergreifenden Gesundheitsproblemen und komplexen Befindlichkeitsstörungen. Vor allem die alten Klassiker der KM wie gesunde Ernährung/Fasten, Sport, Entspannung („Stressmanagement“) werden zunehmend zu zentralen Bestandteilen einer „integrativen“ Medizin und fließen deshalb zu Recht als wichtige Optionen in medizinische Leitlinien ein.