Liebe Leserin, lieber Leser,
vor Jahrzehnten galt die Regel, die Obergrenze des Blutdrucks liege bei 100 plus Lebensalter. Beim 60-Jährigen also bei 160 systolisch. Seit etlichen Jahren wird die Obergrenze – unabhängig vom Alter – bei 139/89 mmHg angesiedelt. Aus meiner Sicht ein praktikabler Wert. Höhere Werte, von z. B. bis 160, gelten als nicht ganz so gravierend, sofern keine weiteren Risikofaktoren hinzukommen. Durchaus schwerwiegend aber werden sie eingestuft, wenn die/der Betreffende raucht, Diabetiker ist oder schon einmal einen Herzinfarkt hatte. Ein anhaltend erhöhter Blutdruck sollte ernst genommen werden. Und das kann man ganz mechanistisch begründen: Ist das Herz über Jahre hinweg belastet, antwortet es mit einer Erweiterung der linken Herzkammer und nach und nach verminderter Auswurfleistung, letztendlich also einer deutlichen Herzschwäche, die sich klinisch u. a. durch Kurzatmigkeit, „dicke Beine“ und Leistungseinbußen äußert.
Die richtige Therapie fährt mehrspurig: Sie hat zum einen mit Änderungen der Lebensführung und dem Versuch zu tun, naturheilkundliche Verfahren einzusetzen, zum anderen wird es in vielen Fällen ganz ohne „Chemie“ aber auch nicht gehen. Die vermehrte Beachtung der Blutdruckgrenze von 139/89 in den letzten Jahren hat zur gestiegenen Rate langlebiger Menschen in unserer Gesellschaft sicher erheblich beigetragen.
Seit einiger Zeit geistern nun neue Studiendaten durch die Fachpresse und werden auch unter Kollegen kontrovers diskutiert: Unter der Abkürzung „SPRINT“ wurden knapp 10.000 Menschen über 50 Jahre (30 % davon über 75) darauf untersucht, ob eine besonders strenge Blutdrucksenkung unter 120 mmHg systolisch einen Zusatznutzen biete. Ausgeschlossen waren u. a. Diabetiker(!) und Patienten, die bereits einen Schlaganfall erlitten hatten. Für die Drosselung des Blutdrucks auf 121,8 systolisch waren durchschnittlich 2,8 Blutdrucksenker erforderlich – was dem Ziel, die im Alter sowieso schon ausufernde „Vielmedikation“ zurückzudrängen, nicht gerade dienlich ist. In Bezug auf Herzinfarkt, akute Angina pectoris, Schlaganfall oder Herztod konnte das Risiko in der behandelten Gruppe um 25 relative % reduziert werden. Allerdings müssen 61 Patienten behandelt werden, damit einer profitiert (number needed to treat (NNT)). Im Hinblick auf die Gesamtsterblichkeit lag die NNT bei 90, in Bezug auf die Sterblichkeit infolge von Herzkranzgefäßerkrankungen sogar bei 172. Als Nebenwirkungen wurden vermehrt Blutdruckabfälle und Kreislaufkollapse (wen wundert’s …), Elektrolyt-Störungen und akute Nierenschäden beobachtet. Die Schlaganfallrate konnte unter der aggressiven Therapie nicht gesenkt werden.
Die Studienautoren folgern nun aus den Ergebnissen: Offenbar könne eine aggressive Blutdrucksenkung einige nichttödliche und tödliche Herzkomplikationen vermindern helfen. Daraus lässt sich aber keine allgemeine Empfehlung für eine radikale Blutdrucksenkung auf unter 120 für jedermann ableiten. Außerdem seien die Nebenwirkungen zu beachten … Und ob, kann ich nur sagen: Vor allem Kollapsneigung, Müdig- und Antriebslosigkeit beobachte ich bei betagten Menschen infolge radikaler Blutdrucksenkung immer wieder und kann nur dringend eine pragmatische Herangehensweise empfehlen. Individuelle Strategien vor dem Hintergrund der Lebensqualität des Einzelnen sind sicher besser als die unkritische Umsetzung völlig wackeliger Studiendaten. Jeder Arzt sollte hinterfragen, ob ärztliches Handeln nicht mehr bedeutet, als unreflektierte Umsetzung von Studienergebnissen, die sich in der Praxis noch gar nicht bewährt haben.
Dr. med. Rainer Matejka