Der griechische Philosoph Chrysippos (279–206 v. Chr.) verfasste ein mehrbändiges Werk über Die Mittel zur Lebensführung. Es sollte die Frage klären, wie ein weiser Mann für seinen Lebensunterhalt sorgen sollte. Doch wie sich herausstellte, hielt Chrysippos eine andere Frage für wichtiger: Warum soll man überhaupt seinen Lebensunterhalt verdienen?
Diese Fragestellung erscheint vermutlich merkwürdig. Natürlich verdienen wir unseren Lebensunterhalt, damit wir das Leben genießen können. Chrysippos lehnte dies ab. Genuss gehöre zu den „gleichgültigen Dingen“, zu jenen, um die man sich kümmern könne oder eben nicht. Auf jeden Fall ist der Lebensunterhalt kein guter Grund, überhaupt eine Tätigkeit aufzunehmen.
Nun gut, gestehen wir dem Chrysippos das mal zu. Aber sicherlich sollten wir doch unseren Lebensunterhalt verdienen, damit wir überleben können. Aber selbst das Überleben gehört für Chrysippos zu den »gleichgültigen Dingen«, wie das Vergnügen. Und damit ist es kein gültiger Grund für irgendetwas.
Das Leben ist etwas Gleichgültiges. Das hört sich … idiotisch an. Wenn überhaupt etwas ein guter Grund für irgendwas ist, dann doch das Überleben. Chrysippos ist da anderer Meinung – und damit steht er keineswegs allein da. Denn Chrysippos war ein Stoiker. Für die Stoiker steht die Macht über das eigene Handeln (vor allem, soweit es tugendhaft ist) über allem. Sie ist wichtiger als das Leben selbst. Der stoische Blick auf die Welt richtet sich auf alles, was die Menschen gewöhnlich für wichtig halten – Geld, Ansehen, Macht, Erfolg, Familie –, und sie sehen, dass nichts davon dauerhaft ist. Wir haben keine Garantie, dass wir diese Dinge bekommen. Und wenn wir sie bekommen, sind wir ständig in Gefahr, sie wieder zu verlieren. Wenn unser Gedeihen also auf diesen Dingen beruht, dann haben wir darauf keinerlei Einfluss. Und den Stoikern zufolge macht das keinen Sinn. Wenn etwas in unserer Hand liegen sollte, dann doch ein gutes Leben. Die einzige Lösung für dieses Problem ist: zu erkennen, dass ein gutes Leben ein gut geführtes Leben ist. Punkt. Gut zu sein und ein gutes Leben zu haben ist ein und dasselbe. Und das wirkt sich massiv auf die stoische Antwort auf die Frage aus, was ein gelingendes Leben ist.
Kleanthes, der Lehrer des Chrysippos, ging einmal in Athen ins Theater. Er saß im Publikum mit lauter Angehörigen der städtischen Oberschicht. Ein angesehener Dichter betrat die Bühne und rezitierte einige Verse. Dabei verspottete er auch Kleanthes vor allen Leuten. Der aber blieb ungerührt sitzen, ohne dass seine Miene auch nur einen Anflug von Ärger zeigte. So sollte ein Stoiker auf negative Lebensumstände reagieren. Aber das ist nichts im Vergleich mit der Geschichte, die der berühmte römische Rhetoriker Cicero (106–43 v. Chr.) über Anaxagoras (1. Jahrhundert v. Chr.) erzählt. Als man ihm die Nachricht vom Tod seines Sohnes überbrachte, antwortete er: »Mir war durchaus bewusst, dass ich einen Sterblichen gezeugt hatte.«
Freilich sind Gesundheit und Reichtum und das Leben unserer Kinder ihrem Gegenteil vorzuziehen: Krankheit, Armut und deren Tod. Aber Menschen können auch tugendhaft sein und gedeihen, wenn sie nicht bekommen, was sie sich wünschen, ja selbst dann, wenn sie alles verlieren, was sie schätzen. Ganz egal, in welchen Umständen du lebst, es gibt immer Gelegenheit, gut zu handeln. Streng genommen haben die Lebensumstände in der stoischen Sicht des Lohnenswerten keinen Platz. Deshalb denkt Chrysippos, dass es keinen guten Grund dafür gibt, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Du brauchst kein Geld, um tugendhaft zu handeln. Du musst auch nicht glücklich sein, um tugendhaft zu werden. Du musst noch nicht mal überleben. Manchmal ist das Tugendhafteste, was ein Mensch machen kann, gut zu sterben.
Gut, das ist eine recht radikale Antwort auf die große Frage. Allerdings auch eine, die inspirieren kann – vor allem, wenn wir tatsächlich keine Macht über unsere Lebensumstände haben. Epiktet (ca. 50 – 135), einer der großen römischen Stoiker, wurde beispielsweise als Sklave geboren. Und als wir unser Life-Worth-Living-Seminar in der Strafanstalt von Danbury vorstellten, wurde der Stoizismus tatsächlich begeistert aufgenommen. Die Seminarteilnehmer erkannten, dass es eine starke Kraft darstellt, sich auf das zu konzentrieren, was man ändern kann. Wenn man sich auf den Kern der Handlungsmacht fokussiert, den uns niemand nehmen kann, nämlich die Fähigkeit, die eigene Einstellung zu bestimmen, dann, so die Teilnehmer in Danbury, konnte man unter allen Umständen seine Würde wahren. Für die Stoiker besteht das gute Leben allein darin: es gut zu führen. Die Tugend ist alles, was zählt, weil die Macht über das eigene Handeln die einzig nötige Lebensmittelgruppe ist.
Autoren
Miroslav Volf promovierte in Tübingen und ist Gründer und Direktor des Yale Center for Faith & Culture.
Matthew Croasmun ist Direktor des Life-Worth-Living-Programms am Yale Center for Faith & Culture und Dozent für Geisteswissenschaften an der Yale University.
Ryan McAnnally-Linz ist Direktor des Life-Worth-Living-Programms am Yale Center for Faith & Culture und Dozent für Geisteswissenschaften an der Yale University.