Zeit ist für uns in den allermeisten Fällen gleichbedeutend mit Zeitmangel. Wir tun zu viel und arbeiten über unsere Verhältnisse. Das maßlose Machen, das hektische Tun, das „Nie-genug-Haben“ vermindern unsere Lebensqualität und gefährden unsere Gesundheit. Es ist daher an der Zeit, den gewohnten Umgang mit der Zeit zu überprüfen.
Geht es um Zeit und um deren Gestaltung und Organisation werden sich, wie Immanuel Kant behauptet hat, die Menschen die Glücksuche nicht ausreden lassen. Man muss ihm zustimmen, wenn man sich den großen Aufwand ansieht, mit dem sich die Menschen bemühen, ihr zeitliches Dasein zu verbessern und mit der Zeit in Frieden zu existieren, die irgendwann das Leben kostet. Die meisten dieser Aktivitäten scheitern, ein Großteil bleibt wirkungslos, andere versanden. Lassen wir uns von den bisherigen Misserfolgen nicht abhalten und machen auch wir uns auf die Glücksuche nach besseren Zeiten.
Sprechen wir im Alltag von „Wohlstand“, sehen wir Menschen vor uns, denen es weder an Geld noch an Gütern fehlt, die sich relativ problemlos ihre Wünsche erfüllen können und die mehr Mittel zur Verfügung haben, als sie zum Leben brauchen. Mit einem Wort: Wohlstandsbürger haben „genug“.
Obgleich das so ist, klagen sie gerne. Es fehlt ihnen nämlich etwas Entscheidendes zu ihrem Glück, und das ist Zeit. Sie leben nicht die Zeit, sie leben den Zeitmangel, die ungeliebte Tochter ihres Wohlstandes. Die Reichen kennen die Zeit nur als knappe Frist, als Deadline und als das, was ihnen fehlt: „Tut mir leid, keine Zeit!“. Sie alle leiden an „Angina temporis“. Zeitwohlstand kennt man in dieser unserer Hochgeschwindigkeitsgesellschaft, in der man sich sogar die Nasen mit Tempo putzt, nur als Sehnsucht und als schöne Hoffnung.
Die Literatur eines Rabelais, eines Robert Walser, eines Hermann Hesse, eines Stan Nadolny – sie lebt von dieser Sehnsucht, und die Leser und Leserinnen dieser Literatur leben ihre Hoffnungen und Wünsche nach Zeitwohlstand durch die Lektüre aus.
Materieller Wohlstand, das beweisen die Klagen der Wohlhabenden über den Zeitmangel, macht weder zufrieden, noch garantiert er eine erfüllte Lebensqualität. Geld- und Güterwohlstand sind durch einen Zeitnotstand erkauft. Zeitnöte sind es denn auch, die es den Wohlhabenden verwehren, ihren materiellen Reichtum genießen zu können.
Die Zeiten der Liebe, der Freundschaft, des Genusses und des Geschmacks, des Vertrauens, der Zuneigung und viele andere Zeiten mehr, sie alle sperren sich gegen ihre Verrechnung mit Geld. Folgt man ausschließlich dem „Zeit-ist-Geld“-Motto bleiben die Zeitqualitäten auf der Strecke. Wer in der Zeit ausschließlich ein monetäres Gut sieht, der wird blind für die Farben und taub für die Töne der Zeit. Er wird die Zeit weder schmecken noch genießen können.
Anders wäre es, wenn das, was wir unter Wohlstand verstehen, sich nicht nur auf Geld- und Güterwohlstand beschränken würde, sondern auch einen Reichtum an lebendigen Zeitformen und Zeitqualitäten einschlösse. Eine solche Zeitwohlstandsgesellschaft könnte ihren Mitgliedern Spielräume eröffnen, um ihre Eigenzeiten zu leben, mit Zeitvorgaben elastisch umzugehen und das ihnen angenehme und angepasste Tempo zu bestimmen, sich und ihr Umfeld rhythmisch zu organisieren und darüber hinaus ihre Zeitsouveränität zu erweitern.
In einer Gesellschaft, die Zeitwohlstand als Ziel anstrebt, sind die Menschen nicht nur geldverdienende Wesen. Zeitwohlstand anzustreben, hieße die derzeit wirkmächtige Vorstellung von „Wohlstand“ um die Kategorien des Wohlbehagens und Wohlbefindens zu erweitern. Das wiederum würde verhindern, dass man sich zwar Tag für Tag abplagt, um die Mittel zum guten Leben zu erwerben, dann aber gezwungen ist, aus Mangel an Zeit auf das gute Leben verzichten zu müssen.
Was Zeitwohlstand ist, weiß eigentlich jeder Mensch, und wie dieser gelebt werden könnte auch. Allein, man nimmt sich zu wenig Zeit, das Wissen praktisch werden zu lassen. Eine erfreuliche Ausnahme – man sollte sich daran ein Beispiel nehmen – ist ein namentlich unbekannter Bahnreisender, der dem Zugbegleiter bei der Fahrkartenkontrolle gezeigt hat, wie Zeitsouveränität aussehen könnte: In einem dieser schnellen Züge, die unser Land durchqueren, in denen den Passagieren wegen der vielen Tunneldurchfahrten Sehen und Hören vergeht, stellt der die Fahrkarten kontrollierende Zugbegleiter bei einem der Passagiere fest, dass dieser nicht den für diesen schnellen Zug erforderlichen „besonderen Fahrschein“ hat. Er bittet ihn, den fehlenden Betrag nachzuzahlen. Auf die Frage des Passagiers, warum dies denn nötig sei, antwortete der Zugbegleiter: „Weil dies ein so schneller Zug ist“. Die zeitsouveräne Reaktion des Fahrgastes: „Dann fahren Sie doch langsamer“. Wer sich solche Antworten leisten kann, lebt im Zeitwohlstand.
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